Karin Wieckhorst ist Fotografin am Leipziger Grassimuseum. Daneben singt sie im Gewandhauschor. Immer mittwochs, am Abend, hat sie Proben im Gebäude der Oper. So war es auch am 29. Mai 1968. Doch etwas war anders als sonst. "Der ganze Karl-Marx-Platz war abgesperrt", erinnert sie sich. Der Grund: Am nächsten Morgen sollte die Paulinerkirche gesprengt werden.
Die über 700 Jahre Universitätskirche St. Pauli in der Leipziger Innenstadt hatte den Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschädigt überstanden. Nun sollte sie auf Wunsch der SED-Führung dennoch weichen.
"Stumme Proteste, mehr konnten wir nicht machen"
Über Jahrhunderte war die Kirche eng mit der Universität verbunden. 1545 wurde sie vom Reformator Martin Luther als Universitätskirche eingeweiht. Viele Berühmtheiten hatten in ihr gepredigt und gewirkt, so auch Barockkomponist Johann Sebastian Bach.
###mehr-artikel###
"In der Woche vor der Sprengung gab es stumme Proteste, mehr konnten wir damals gar nicht machen. Viele Leute versammelten sich auf dem Karl-Marx-Platz, es wurden Blumen an das Gitter gebunden", erzählt Fotografin Wieckhorst.
Der 30. Mai ist ein sonniger Frühjahrstag. Auf dem Augustusplatz mitten im Leipziger Stadtzentrum herrscht Anspannung, nur wenige Menschen dürfen sich im Radius von 300 Metern um die dort gelegene Paulinerkirche aufhalten.
Karin Wieckhorst beschließt, das Ungeheuerliche zu fotografieren. Von der zweiten Etage des Grassimuseums hat sie einen direkten Blick auf die Kirche. Sie stellt ihr Stativ auf, befestigt ihre 6x6-Kamera mit der extra langen Brennweite darauf und hält auf die Kirche.
Die Stasi fragte nach den Fotos
Gegen 10 Uhr vormittags hört sie den ersten Knall. Rund 700 Kilogramm Sprengstoff detonieren aus den Sprenglöchern des Mauerwerks. "Da habe ich ganz weiche Knie bekommen. Hätte ich die Kamera nicht auf dem Stativ gehabt, hätte ich gar nicht fotografieren oder die Kamera halten können", erzählt die heute 70-Jährige.
Erst kippt der Dachreiter, dann der Turm und die Westseite der Kirche, am Schluss fällt die Giebelrosette an der Frontseite. "Ich habe nur noch den Auslöser gespannt und abgedrückt." Die schwarz-weiße Fotos zeigen später, wie sich der Turm zur Seite neigt, die Kirche zusammenfällt und schließlich in einer haushohen Staubwolke verschwindet. Es sind die einzigen existierenden Fotos, die das Ausmaß der Zerstörung so detailliert und großformatig festhalten.
Höchstens vier Sekunden dauert der Zusammenbruch des Gotteshauses, für sie mit starken Gefühlen begleitet. "Das Tragische war, dass wir da so ohnmächtig waren und kein Einspruch möglich war, obwohl es den zu Genüge gab." Karin Wieckhorst macht nach dem 30. Mai Abzüge ihrer Fotos und verteilt sie gegen kleines Entgelt. "Das war dann mein Anteil am Protest. Dass durch diese Fotografie dieses Zeugnis der Tat zu sehen war."
Die Negative versteckt sie. Später erzählt ihr der damalige Direktor des Museums, dass Mitarbeiter der Stasi sich bei ihm erkundigt hatten. "An den Fotos kann man den Standort, von wo sie fotografiert worden sind, erkennen. Aber er hat mich nicht verraten."
Die Sprengung der Pauliner-Kirche in Leipzig am 30. Mai1968. Fotos: Karin Wieckhorst/epd-bild, Montage: evangelisch.de