Foto: Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Die Kirchen haben eigentlich wenig falsch gemacht, sagt Kirchenforscher Detlef Pollack. Er sorgt sich darum, dass der Trend zur Säkularisierung unumkehrbar ist.
Detlef Pollack: "Entscheidend ist solide geistliche Arbeit"
Einen alarmierenden Prozess der Säkularisierung, gerade bei jungen Leuten, beobachtet der Münsteraner Religionssozioge Detlef Pollack. Er empfiehlt der Kirche, sich der Realität zu stellen, aber nicht dem Zeitgeist hinterher zu laufen. Entscheidend sei solide geistliche und theologische Arbeit – und verstärkter Kontakt zu jungen Familien.

Herr Professor Pollack, wenn heute Erwachsene in die Kirche eintreten – was sind dann meist die Gründe?

Detlef Pollack: Bei allen Fällen, die wir untersucht haben, spielte sozialer Kontakt eine entscheidende Rolle. Die Wiedereingetretenen sagen: "Ich habe eine alte Freundin wieder getroffen, die in der Kirche ist." Oder: "Mein neuer Partner ist kirchlich aktiv." Oder: "Unser Kind hat sich taufen lassen, und das hat uns der Kirche wieder näher gebracht." Oft ist es auch ein glaubensstarker Seelsorger, der beeindruckt und inspiriert. Manche Leute treten ein, wenn sie älter werden, um ihr Verhältnis mit Gott zu ordnen. Am wahrscheinlichsten sind Wiedereintritte, wenn jemand als Kind und Jugendlicher bereits religiös erzogen wurde.

Wie viel bedeutet die Kirche ihren Mitgliedern?

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Pollack: Die häufigen Gottesdienstbesucher – vielleicht 5 bis 10 Prozent der Mitglieder – sind meist auch in anderen Bereichen von Kirche und Gemeinde stark engagiert. Oft handelt es sich bei ihnen um Familien: Man geht meist nicht allein in die Kirche, sondern mit den Kindern oder dem Partner. Man möchte, dass auch die Kinder im christlichen Glauben erzogen werden. Es lässt sich sogar feststellen: Je mehr Kinder, desto kirchennäher! Denn mit der Zahl der Kinder nimmt auch die Zahl der Anlässe, sich in der Kirche zu versammeln, zu.

Und wie steht es mit den Kirchendistanzierten? Sie stellen ja die größte Gruppe der Kirchenmitglieder.

Pollack: Ja, wir reden hier von 60 bis 70 Prozent. Diese Leute gehen in der Regel nicht zum Gottesdienst, nur zu den großen Festen. Aber Taufe, Konfirmation, Trauungen und Beerdigungen sind bei ihnen stark nachgefragt. Sie nutzen ihre Mitgliedschaft als Rückversicherung für den Fall, dass sie die Kirche mal brauchen.

"Kirche soll im Dorf bleiben und für Alte und Schwache da sein"

Wie würden Sie das Kirchenverhältnis der westdeutschen Bevölkerungsmehrheit beschreiben?

Pollack: Die Haltung ist wohlwollend-distanziert. Kirche gehört für sie dazu. Sie soll im Dorf bleiben. Sie repräsentiert für sie das Fundament unserer Kultur. Und sie soll besonders für die Schwachen, Alten und Kranken da sein. Zwar ist diese Mehrheit nicht besonders kirchenkritisch, aber sie betont die religiöse Selbständigkeit der Menschen. Man schätzt es nicht, wenn die Kirche autoritär und staatsnah auftritt, sich bürokratisch verhält oder sich als reich präsentiert. Hohe Sympathie genießt die Kirche, wenn sie nahe beim Volk ist. So ist es in ganz Westeuropa.

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Welches Verhältnis zur Kirche hat die konfessionslose Mehrheit in Ostdeutschland?

Pollack: Da hat die religionsfeindliche Politik der SED gründliche Arbeit geleistet: Viele Ostdeutsche haben überhaupt kein Verhältnis mehr zur Religion. Weil nur wenige von ihnen Berührungen mit Religion und Kirche haben, sind sie nicht so kirchenkritisch wie viele Konfessionslose in Westdeutschland. Aber zugleich haben sie auch weniger Verständnis für religiös eingestellte Menschen.

Zur "Friedlichen Revolution" 1989 hat die evangelische Kirche der DDR Entscheidendes beigetragen. Warum hat die konfessionslose Mehrheit das kaum honoriert?

Pollack: Ab 1990 hatten die Leute erst einmal andere Sorgen, sie mussten ihre materielle Existenz sichern und hatten wenig Zeit für Kirche. Und danach hatten sich auch im Osten einflussreiche Landeskirchen etabliert, die aufgrund ihrer Privilegien – staatlicher Kirchensteuereinzug, Religionsunterricht, Militärseelsorge et cetera – wie eine westdeutsche "Siegerinstitution" wahrgenommen wurden. Davor hatten einige Stimmen unter den ostdeutschen Protestanten frühzeitig gewarnt. Wie mir scheint, nicht zu Unrecht.

"Es ist im Westen fast normal, nicht zur Kirche zu gehören"

Wagen Sie eine Zukunftsprognose: Wie werden sich die evangelischen Landeskirchen Deutschlands in 30 Jahren entwickelt haben, falls der bisherige Trend anhält?

Pollack: Seit der Wiedervereinigung hat sich der Entkirchlichungsprozess noch einmal verstärkt: Es ist jetzt auch im Westen fast normal, nicht zur Kirche zu gehören. Vor allem beim Kirchenverhältnis jüngerer Menschen stellen wir inzwischen erdrutschartige Abbrüche fest: Sie beten weniger als die Älteren. Sie gehen noch weniger zur Kirche. Sie haben weniger Vertrauen in diese Institution. Ihre Bereitschaft, die eigenen Kinder religiös zu erziehen, ist ebenfalls geringer geworden. 

Besteht nicht die Hoffnung, dass diese Leute zur Kirche zurückfinden, wenn sie älter werden?

Pollack: Es ist nicht ausgeschlossen, aber sehr unwahrscheinlich, dass Leute zum Glauben und zur Kirche finden, wenn sie nicht schon in der Kindheit und Jugend herangeführt wurden und es eingeübt haben, zum Gottesdienst zu gehen, zu beten oder auch mal in der Bibel zu lesen. Die evangelische Kirche wird wohl ihre Verankerung in der Breite der Gesellschaft mehr und mehr verlieren.  

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Sie sind Wissenschaftler, aber zugleich auch evangelischer Christ. Was empfinden Sie, wenn Ihre Forschung Sie zu solchen Ergebnissen bringt?

Pollack: Ich finde diesen sich selbst verstärkenden Prozess der Säkularisierung alarmierend, denn er scheint unumkehrbar zu sein. Man sieht keine gegenläufigen Tendenzen. Mich macht das traurig – auch weil ich sehe, dass die Kirchen von sich aus nicht allzu viel falsch gemacht haben. Die Pfarrer etwa, die ich erlebe, sind meist gut ausgebildete, kluge, dialogische und einfühlsame Personen, die oft auch noch ansprechend predigen können. Wir haben es hier offenbar mit einer Vielzahl von Faktoren zu tun, auf die die Kirche keinen Einfluss hat.

"Die Kirche ist stark im Bereich Familie"

Wie sollten die Kirchen und Gemeinden auf diese gewaltige Herausforderung reagieren?

Pollack: Sie sollten weder dem Zeitgeist nachlaufen noch sich völlig dagegen sperren. Die zentrale Frage sollte nicht sein, womit wir viele Menschen gewinnen. In unseren Inhalten dürfen wir uns nicht von der Entwicklung abhängig machen. Entscheidend ist, dass die Kirche eine solide theologische und geistliche Arbeit macht. Wichtig ist es auch, in der Fläche gut präsent zu bleiben. Aber die breite Angebotspalette aufrecht erhalten zu wollen, wäre verheerend. Das ist nicht zu leisten. Die Kirche sollte behutsam ihr Profil schärfen und in ihrer Arbeit Schwerpunkte setzen.

Von welchen Arbeitsbereichen muss sich die Kirche trennen? Und welche anderen stärken?

Pollack: Da braucht es lokale Situationsanalysen: "Wo ist Kirche am Ort stark? Welche Ressourcen haben wir?" Und dann muss man kleine, gut überlegte Schritte tun. Ein Fahren auf Sicht.

Mit welchen Pfunden wird die Kirche weiter wuchern können?

Pollack: Die Kirche ist stark im Bereich Familie. Und auf diesen Bereich wird es enorm ankommen, denn die religiöse Sozialisation geschieht hauptsächlich in den Familien. Hier sollte die Kirche verstärkt ansetzen. Das bedeutet: kirchliche Schulen und Kindergärten ausbauen, die Taufbereitschaft junger Eltern fördern, Familiengottesdienste stärken! Der Weihnachtsgottesdienst ist auch deshalb so gut besucht, weil Weihnachten für viele vor allem ein Familienfest ist. Angebote, die Familien anziehen, sollten ein Schwerpunkt kirchlicher Arbeit sein.