Es ist eine fast unglaubliche Geschichte, die sich kurz vor Ostern in Bayreuth zugetragen hat und über die die Diakonie Neuendettelsau nun berichtet: Der 21-jährige Julian wohnt in einem Haus der Himmelkroner Dienste für Menschen mit Behinderung, einer Einrichtung der Diakonie. Zum Osterfest will er mit dem Zug zu seinen Eltern nach Hof fahren, wie er es seit Jahren tut. Von Himmelkron geht es am Karfreitag zunächst mit dem Kleinbus zum Bahnhof ins nahegelegene Neuenmarkt.
###mehr-artikel###Doch dort gibt es ein Problem - in Neuenmarkt wird der aus Würzburg kommende Regionalexpress geteilt. Der vordere Teil fährt nach Bayreuth, der hintere nach Hof. Julian landet versehentlich in dem Triebwagen, der in die rund 15 Kilometer entfernte Wagnerstadt fährt. Als er im Wagen auf der digitalen Anzeige den falschen Zielort las, ist es schon zu spät, der Zug ist abgefahren. Als Fahrkarte hat Julian einen Ausweis, der für eine ganze Reihe von Strecken gilt – auch nach Bayreuth. Deshalb fällt dem Schaffner bei der Kontrolle nichts auf.
Er kann andere Menschen nicht ansprechen
Wegen seiner Behinderung ist es für Julian fast unmöglich, bei einem Problem andere Menschen anzusprechen. So bleibt er im Zug bis zur Endstation. Vom Bayreuther Bahnhof aus folgt er dem Weg, der für ihn am klarsten erkennbar scheint - einen leichten Hügel hinunter Richtung Innenstadt. In der fremden Stadt läuft er die Bahnhofstraße bis zum Annecyplatz. Auf dem großen Verkehrsknotenpunkt gibt es dann keinen deutlich sichtbaren Weg mehr. Julian setzt sich auf eine Parkbank - und wartet darauf, dass ihn jemand abholt. Stundenlang.
###mehr-info###Währenddessen wartet auch Julians Mutter. Sie steht am Hofer Bahnhof und hält vergeblich nach ihrem Sohn Ausschau. Schließlich geht sie zur Polizei, die sich ihrerseits auf die Suche macht. Rund um die Bahnhöfe in Neuenmarkt, Hof und Bayreuth sehen sich die Streifen um – selbst die Möglichkeit, dass sich der junge Mann zu Fuß auf den Rückweg nach Himmelkron gemacht hatte, wird geprüft. Nachdem die Wohngruppe über Julians Verschwinden informiert worden ist, macht man sich auch in Himmelkron immer mehr Sorgen, wie sich Wohngruppenleiterin Elke Netsch erinnert.
Niemandem fällt der junge Mann mit Reisetasche auf
Die Parkbank am Annecyplatz ist aber offenbar schon zu weit entfernt vom Bahnhof, um den Bayreuther Polizisten aufzufallen. Langsam wird es Nacht. "Ich habe mich sehr gefürchtet und kaum geschlafen", erinnert sich Julian. Dass er Angst hat, kann er an diesem Karfreitag allerdings nicht zeigen. Seine abweisene Mimik passt nicht zu seiner Gefühlslage. Sie ist Teil seiner Veranlagung - man sieht Menschen den Autismus oft gar nicht an. Das mag einer der Gründe sein, warum der junge Mann mit der Reisetasche niemanden auffällt, obwohl mehrere Leute an der Parkbank vorbeikommen.
Die Temperatur sinkt in der Nacht zum Karsamstag auf wenige Grad über dem Gefrierpunkt. Julian ist nicht besonders warm angezogen, denn eigentlich war ja nur eine Zugfahrt nach Hof geplant. Am Morgen sitzt er immer noch auf seiner Bank, während man sich in Himmelkron immer größere Sorgen macht. 28 Stunden vergehen schließlich, ehe ein Mann den 21-Jährigen anspricht. Genau kann sich Julian nicht mehr an seinen Retter erinnern. Schlecht verstanden hat er ihn, aber das kann viele Gründe haben.
Über Ostern im Krankenhaus
Jedenfalls fragt ihn der Mann, ob er die Polizei verständigen soll. Julian sagte "ja". Einige Zeit später treffen die Ordnungshüter ein und fragen ihn nach seinem Ausweis. Rasch wird klar, dass es sich um den vermissten jungen Mann aus Himmelkron handelt. Sanitäter bringen Julian in ein Bayreuther Krankenhaus. Dort besuchen ihn seine Himmelkroner Mitbewohner. Erst am Dienstag kann er nach den aufregenden Ostertagen, über die auch die Medien berichteten, wieder nach Himmelkron zurückkehren.
###mehr-links###Inzwischen kann Julian über sein Abenteuer sogar ein bisschen lachen. Auf jeden Fall aber würde er sich gern bei dem Mann bedanken, der ihn aus seiner schwierigen Lage gerettet hat. Er bittet den Unbekannten deshalb, sich in Himmelkron zu melden: Telefon 09227-79320 oder 79322, E-Mail elke.netsch@diakonieneuendettelsau.de. Und noch eine Bitte haben Julian und seine Betreuer: Lieber einmal zu oft jemanden ansprechen, der hilflos wirkt. Je nach Jahreszeit können wenige Worte sogar ein Leben retten.
Nachtrag (29. Mai): Julians Retter ist inzwischen ausfindig gemacht worden. Nach Angaben des "Nordbayerischen Kuriers" handelt es sich um den 49-jährigen Vietnamesen Huu Phuoc Nguyen, der am Annecyplatz einen Asia-Wok-Imbiss betreibt. Der junge Mann sei vor Kälte ganz blau im Gesicht gewesen und habe müde ausgeschaut, berichtete er. Bevor Julian in die Obhut der Polizei kam, habe er ihm gratis etwas zu essen und zu trinken gegeben. "Für den Vietnamesen war die Hilfe selbstverständlich, großen Dank erwartet er dafür nicht", schreibt die Zeitung.