Rund um den Jahrestag ist der Schmerz besonders groß. Genau 20 Jahre ist es jetzt her, dass die Welt von Mevlüde Genç zerstört wurde. Zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte starben, als am 29. Mai 1993 ihr Haus in Solingen von vier jungen Neonazis in Brand gesteckt wurde. Noch immer wacht die heute 70-Jährige mit dem Schmerz auf und geht mit ihm schlafen. Reden will sie über die Geschehnisse und ihre Gefühle nicht mehr. "Das wird mich bis an mein Lebensende begleiten", sagt sie nur.
Die Familie ist es leid, in stundenlangen Einzelinterviews immer wieder die gleichen Fragen zu beantworten. Die seelische und inzwischen auch körperliche Belastung ist einfach zu groß. Auch neuen Berichten über rechtsextreme Gewalt fühlt sich Mevlüde Genç, die sich beim Gehen auf einen Stock stützt, nicht mehr ganz gewachsen. Berichte etwa über den NSU-Terror verfolgt sie in Zeitung oder Fernsehen lieber nicht, weil sie das emotional zu sehr aufwühlt: "Ich habe schon genug Schmerzen."
Ihre Kraft kommt aus dem Glauben
Verbittert ist sie trotzdem nicht: Kein Hass, kein Rachegefühl, keine Anklage gegen das Land oder die Stadt, in der sie seit 43 Jahren lebt, kommt über ihre Lippen. Stattdessen ruft sie zu gegenseitigem Respekt, friedlichem Miteinander und Mitmenschlichkeit auf. "Lasst uns Freunde sein", sagte sie schon kurz nach dem Anschlag und trat für Versöhnung ein. Mevlüde Genç nahm 1995 die deutsche Staatsbürgerschaft an und wurde zu einer Symbolfigur für Verständigung und Toleranz.
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Das brachte ihr viel Respekt und eine Reihe von Auszeichnungen ein, darunter 1996 das Bundesverdienstkreuz. Im vergangenen Jahr gehörte sie zu den Prominenten, die den Bundespräsidenten mit wählten. Anerkennende Worte für ihre Courage gab es vor einigen Tagen auch im Düsseldorfer Landtag. Das parlamentarische Gedenken zum Jahrestag des Anschlags verfolgte sie gemeinsam mit ihrem 69-jährigen Ehemann Durmus Genç von der Zuschauertribüne aus. Den Zuspruch und die Auszeichnungen betrachtet Mevlüde Genç als Ehre und Ausdruck der Wertschätzung.
Woher nimmt diese Frau die Kraft, trotz ihrer traumatischen Erlebnisse immer wieder für ein positives Miteinander zu werben? An erster Stelle nennt sie ihren muslimischen Glauben: Sie beziehe ihre Stärke aus ihrer Beziehung zu Gott und aus dem Wunsch, Vorbild zu sein für gegenseitige Achtung und Nächstenliebe. "Für mich sind alle Menschen gleich, unabhängig von Herkunft und Religion", betont sie.
Ihren neun Enkelkindern hat sie die Wahrheit über den furchtbaren Anschlag bis heute nicht erzählt. Um die Kinder nicht zu überfordern und keinen Hass zu säen, das helfe niemandem. Anfangs sagte sie, die Cousinen und Tanten seien bei einem Autounfall gestorben. Als die Kinder aus den Medien mehr erfuhren, beschwichtigte sie, das Haus sei aus Versehen abgebrannt und die Opfer seien durch den Rauch ums Leben gekommen. Die Wahrheit sollen die Enkel erst als Erwachsene erfahren, jetzt sollen sie noch keine "psychischen Probleme mit sich rumschleppen müssen".
Solingen bleibt ihre Heimat
Familie Genç wohnt in einem videoüberwachten Haus, das mit Versicherungs- und Spendengeldern gebaut wurde. Den türkischen Herkunftsort Mercimek, nach dem heute in Solingen ein Platz benannt ist, verließ Mevlüde Genç mit 27 Jahren. "Seither sind Deutschland und Solingen meine Heimat", sagt sie. Obwohl sie kaum Deutsch spricht. Nicht eine Sekunde habe sie nach dem Brandanschlag daran gezweifelt oder daran gedacht, in die Türkei zurückzugehen: "Ich verbinde sehr viel Positives mit Solingen. Ich fühle mich hier wohl und habe hier meine Familie, meine Freunde und meine Nachbarn."
Für die Brandstifter von damals hat Mevlüde Genç nicht viele Worte übrig. Sie hätten ihre gerechte Strafe verbüßt, "damit ist das Thema für mich erledigt", sagt sie. "Alles andere ist Sache Allahs." Und die anderen Deutschen dürften für die Tat von vier Menschen nicht "in Sippenhaft" genommen werden.
Zur Familie gehört auch Mevlüde Gençs 49-jähriger Sohn Kamil. Er verlor bei dem Anschlag zwei Töchter und träumt immer noch davon, erzählt er in Anwesenheit seiner Mutter mit Tränen in den Augen. Auch er will bis zum Ende seiner Tage in Solingen bleiben: "Das ist meine Stadt". Ob er sich angesichts rechtsextremer Gewalt heute sicher fühlt? Die Antwort kommt schnell und eindeutig: "Ja klar."