Beschleunigende Zeit
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Hast und Eile überall: Da tut es Not sich darüber klar zu sein, was im Leben wirklich zählt.
Käßmann: "Unsere Gesellschaft kann ein Burn-Out erleiden"
"Jeder kann die Welt verändern", sagt Margot Käßmann. Wie das geht, verrät sie im Interview mit evangelisch.de. Heute würden Alte, Kinder oder Menschen mit Handicap oft als störend empfunden. Für die Theologin aber ist der wahre Störfaktor das sich stets beschleunigende Tempo unserer Zeit. Sie ist davon überzeugt, dass Deutschland an der Spitze der Bewegung für eine friedensfähige Welt stehen kann und macht deutlich, dass man nicht kaufen kann, was uns im Leben wirklich wichtig ist.

Frau Käßmann, als Weltverbesserer wird man heutzutage gern belächelt. Wie sind Sie auf das Thema "Gutmenschentum" gekommen?

Margot Käßmann: Ich saß in einer Talkshow zum Thema "Gutmenschen". Dort wurde gesagt, dass gegenüber der Realpolitik, die heute zu betreiben sei, Christenmenschen mit ihren Ansichten gern in den Kirchen bleiben könnten, aber doch nichts mitten in der Welt zu suchen hätten. Das hat mich geärgert. Ich denke, dass Christinnen und Christen gerufen sind, ihren Glauben in der Welt umzusetzen, um die Welt zu verbessern.

Wie haben Sie ganz persönlich zu Ihrer Haltung gefunden, die Welt verändern zu wollen?

Käßmann: Für mich war mit 16 Jahren eine Begegnung in den USA mit den Texten, Ton- und Bildaufnahmen von Martin Luther King entscheidend. Mich hat fasziniert, dass der Mensch fromm und gleichzeitig ganz politisch sein kann. Diese Kombination hat mich nie mehr losgelassen. Deswegen war ich später auch so gern Generalsekretärin des Kirchentags, weil der Kirchentag immer wieder versucht, diese Balance zwischen begeisterter Frömmigkeit und entschiedenem Einmischen zu finden.

"Kleine Schritte können insgesamt etwas verändern"

In Ihrem Buch "Mehr als Ja und Amen – Doch, wir können die Welt verbessern" schreiben Sie, die kleinen Schritte zählen, um die Welt zu verändern. Welcher Schritt kann der erste sein?

Käßmann: Wichtig ist die Ermutigung zu sagen: "Ich kann etwas tun!" Welches der erste Schritt ist, kann niemandem diktiert werden. Das kann etwa die Entscheidung sein, im Lebensmittelgeschäft nicht den deutschen Markenkaffee für 3,99 Euro, sondern den Fairtrade-Kaffee für 5,99 Euro zu kaufen. Andere sagen mir, das könnten sie sich finanziell nicht leisten. Dann kann ich aber vielleicht bei der Nachbarin nebenan anklopfen, von der ich weiß, dass sie einsam ist, und fragen, ob sie auf eine Tasse Kaffee rüberkommen will oder aber ich entlaste die allein erziehende Mutter einen Nachmittag lang. Das sind alles kleine Schritte, aber sie können insgesamt etwas verändern. Bei der Energiewende sehen wir beispielsweise, wie die kleinen Schritte den Energieverbrauch reduzieren. Aber auch das In-Frage-Stellen der Atomkraft an sich hat in der großen Politik zuletzt etwas bewirkt.

Was sagen Sie dazu, dass manche Menschen glauben, sich Zivilcourage nicht leisten zu können? Was würden Sie beispielsweise demjenigen raten, der bemerkt, dass es bei der Arbeit ungerecht zwischen den Kollegen zugeht?

Käßmann: Auf jeden Fall würde ich zu einem Gespräch ermuntern. Ich denke aber auch, dass wir nicht mit erhobenem Zeigefinger anderen sagen können, was sie zu tun haben. Ich möchte ermutigen, dass jeder einmal für sich nachdenkt: "Wo kann mein Beitrag liegen?" Nicht jeder kann alles und nicht jede soll das gleiche tun. Aber jeder kann sich fragen: "Was kann mein Beitrag sein?" Ich finde, es lohnt sich, andere zu ermutigen sich einzumischen; auch dort, wo es unbequem ist oder wehtun kann. Für Menschen kann es ein starkes Erfolgserlebnis sein, wenn sie sagen können: "Doch, ich hab's gewagt etwas zu sagen, ich hab's gewagt, mich einzumischen!"

"Angst vor Kritik bewirkt Stillstand"

Vieles ist Ihrer Ansicht nach eine Frage der inneren Haltung. Was entgegnen Sie Kritikern, die das nicht verstehen, sondern stets mit vermeintlichem Fachwissen gegenargumentieren und nicht das große Ganze sehen wollen?

Käßmann: In der Tat glaube ich, dass unser gesellschaftliches Engagement Resultat einer inneren Haltung ist. Ein Kapitel in meinem Buch heißt deswegen auch: "Freier, als du denkst". Meine Erfahrung ist: Wenn Du Dich gehalten weißt von Gott im Glauben, dann hast Du auch Haltung, weil Du viel weniger Angst vor den ganzen Wertungen von außen haben musst. Wer sich einmischt, setzt sich auch Kritik aus. Das habe ich selbst oft genug erlebt. Aber aus Angst vor der Kritik nicht zu sagen, was ich denke, oder nicht auszudrücken, was ich fühle, halte ich dem Gemeinwesen gegenüber für abträglich. Dann verändert sich gar nichts mehr bei uns, dann gibt es den absoluten Stillstand. Manchmal habe ich den Eindruck, dass heute viele nicht mehr sagen, was sie tatsächlich denken, um sich der Kritik nicht auszusetzen.
 
Menschen behaupten oft: "Das war schon immer so. So sind nun einmal die Verhältnisse. Das Wirtschaftssystem, der Markt verlangt es", Stichwort: "alternativlos". Was entgegnen Sie dem?

Käßmann: Da würde ich sagen, dass noch vor 30 Jahren die meisten Menschen wahrscheinlich angenommen hätten, dass zwei geteilte deutsche Staaten gauf Dauer bleiben. Als Ronald Reagan damals sagte: "Mr. Gorbatschow, tear down this wall!" dachten viele: Welch merkwürdige Vision, die Sowjetunion wird ewig bleiben. Was sich Ende der 1980er Jahre dann alles verändert hat, war doch lange Jahre unvorstellbar. Die Erfahrung von 1989 ermutigt: Natürlich können wir etwas ändern!

"Was uns wirklich im Leben wichtig ist, ist nicht käuflich"

Wo liegen die Denkfehler beim gegenwärtigen Wirtschaften?

Käßmann: Dass Wachstum immer nur "mehr" bedeutet: mehr Geld, mehr Verbrauch, mehr Konsum. Das ist ein Irrtum. Es gibt die tolle Initiative "Anders wachsen", die zeigt, dass mehr Konsum nicht glücklicher macht, sondern all das, was uns wirklich im Leben wichtig ist, nicht käuflich ist: Liebe, Glück, Vertrauen, Freundschaft, Familie. Dieses Denken, dass ich immer mehr haben muss und es keine Ethik des Genug gibt, halte ich für das Schlüsselproblem; es macht die Menschen nicht unbedingt glücklicher.
 
In Ihrem Buch spielt die Scham von Menschen eine zentrale Rolle. Welche?

Käßmann: Ich würde gern den Blick daraufhin verändern, dass wir sagen können, in einer Art Segenskreislauf zu sein. In diesem Segenskreislauf gibt es Phasen, in denen ich nehme. Säuglinge und Kinder, später Kranke, Arbeitslose, Hilfe- und Pflegebedürftige brauchen die Hilfe und Unterstützung anderer Menschen. Es gibt aber Zeiten im Leben, in denen bin ich tatkräftig, kann ganz viel leisten und einbringen. In diesen Zeiten zahle ich den Kreislauf ein. Dann muss ich mich aber auch nicht dafür schämen, wenn ich aus diesem Kreislauf wieder etwas herausnehme. Geben und Nehmen gehört für alle dazu. Keiner ist der Macher seiner selbst, der immer nur für andere leistet. Wir alle sind zeitweise auch immer auf andere angewiesen. Wenn wir uns so sehen, könnten wir aus der Scham der Armut herauskommen. Ich denke da an einen Jungen, der nicht mit auf Klassenfahrt fährt, weil er sich schämt, dass seine Mutter nicht das Geld dafür hat. Er will auch nicht mitfahren, nachdem die Klasse für ihn zusammengelegt hat. Eine Begegnung auf Augenhöhe ist entscheidend. Das geschieht beispielsweise bei Obdachlosenzeitungen, wo einer nicht am Boden sitzt und bettelt, sondern die Möglichkeit hat, dem anderen direkt in die Augen zu gucken und einen Handel einzugehen. Oder nehmen Sie das Fairkaufhaus. So etwas imponiert mir.

"Eine ganze Gesellschaft kann einen Burn-Out bekommen, wenn sie Stille nicht mehr aushält"

Alte, Menschen mit Handicap oder auch Babys werden in einer beschleunigten Welt, in der Zeit Geld ist, oftmals als Störfaktoren wahrgenommen. Was sind für Sie die eigentlichen Störfaktoren?
 
Käßmann: Ein Störaktor ist für mich dieses entsetzliche Tempo, in dem überhaupt nicht mehr angehalten wird. Die Menschen reden, rennen, telefonieren und mailen ununterbrochen. Manche Zugfahrten machen mich geradezu aggressiv, weil alle permanent in ihr Telefon reden. Mich stört, dass viele überhaupt keine Stille mehr kennen und auch nicht mehr aushalten, einen Feiertag zu haben, an dem nicht konsumiert werden kann. Störend finde ich, dass wir keinen Rhythmus mehr haben. Ich denke, dass so eine ganze Gesellschaft einen Burn-Out bekommen kann, wenn sie überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommt und Stille nicht mehr aushält.

Sie sagen, Deutschland könnte an der Spitze der Bewegung für eine friedensfähige Welt stehen. Wie kann das gelingen?

Käßmann: Wir haben bei der Diskussion um den Irak-Krieg 2003 gesehen, dass in Deutschland die große Mehrheit der Bevölkerung sehr sensibel mit Blick auf Krieg ist, anders etwa als die britische oder amerikanische Gesellschaft. In Diskussionen in Amerika habe ich wahrgenommen, dass die Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs, wie auch deren Aufarbeitung und die Schulderfahrung, die Deutschen besonders dafür sensibel gemacht haben.

Wir brauchen andere Formen, Konflikte zu lösen, ein frühzeitiges Warnsystem für Konflikte, die angegangen werden müssen, weil sie sonst zum bewaffneten Konflikt eskalieren. Es ist doch absurd, den Export von Rüstungsgütern zu befürworten und dann wieder zu beklagen, dass diese auch tatsächlich angewendet werden. Ich finde, dass Deutschland sich energischer für Friedensfähigkeit einsetzen könnte, auch weil wir erlebt haben, dass ein gewaltfreier Wandel möglich ist.
 

Was brauchen wir zum guten Leben? Was zählt wirklich?

Käßmann: Armut kann bitter sein. Ich will Geld gar nicht kleinreden. Für seine Würde braucht jeder Mensch eine Grundausstattung: Nahrung, Obdach, Bildungsmöglichkeiten, eine Gesundheitsversorgung. Beteiligungsgerechtigkeit ist das Entscheidende. Jedem Menschen muss eine Beteiligung am gesellschaftlichen Leben ermöglicht sein, das gehört zum guten Leben. Was darüber hinaus geht, ist nicht käuflich: Beziehung, Liebe, Freundschaft, Glück, Sinn und Gottvertrauen.