Foto: epd-bild/Andreas Enderlein
Martin Luther bot sich stets als Projektionsfläche für politische und kirchenpolitische Ideen an - wird sich das 2017 ändern? Unser Bild zeigt eine Rückansicht des berühmten Lutherstandbildes von Johann Gottfried Schadow auf dem Wittenberger Marktplatz.
Von 1517 bis heute: Politik auf Luthers Rücken
Der Historiker Hartmut Lehmann zu den Reformationsfeiern in Geschichte und Gegenwart
Wer sich mit der Geschichte der Reformationsfeierlichkeiten sowie der Nachwirkung Martin Luthers befasst, kommt an den Forschungen von Hartmut Lehmann nicht vorbei. Der Historiker stand bis 2004 dem Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte vor. Vor kurzem legte er unter dem Titel "Luthergedächtnis 1817 bis 2017" einen vielbeachteten Aufsatzband vor. Im Interview mit evangelisch.de äußert sich der 76-Jährige über die Instrumentalisierung Luthers durch die Politik, die Idee eines "Luthergroschens" für soziale Zwecke - und wie er selbst den 31. Oktober 2017 gerne verbringen würde.
24.05.2013
evangelisch.de

Herr Professor Lehmann, in Ihrem Buch "Luthergedächtnis 1817 bis 2017" schildern Sie die Erinnerung an den Reformator als Geschichte politischer Vereinnahmungen. Warum ist Luther immer eine starke Projektionsfläche gewesen?

###mehr-personen###Lehmann: Über die Jahrhunderte hinweg ist es immer wieder zu einer massiven politischen, auch kirchenpolitischen Vereinnahmung Luthers gekommen. Man kann dabei verschiedene Phasen unterscheiden. Bei den frühen Jubiläen, 1617 und 1717, standen kirchenpolitische Auseinandersetzungen im Vordergrund, vor allem der Konfessionskonflikt im Alten Reich. Luther wurde gefeiert als der Begründer des Protestantismus, als der Mann, der die Schwächen und Fehler des Papsttums aufgedeckt hat. Die späteren Jubiläen, 1817, 1883 und 1917, wurden dann vom Nationalismus bestimmt: Die Heroisierung von Luther war vor allem gegen das katholische Frankreich gerichtet. Luther wurde als der typische Deutsche dargestellt, der die nationale Einigung und den Aufstieg Deutschlands zu einer Großmacht erst möglich gemacht habe. Die Nationalsozialisten feierten Luther schließlich 1933 als den kongenialen Vorläufer von Hitler, während ihn die Kommunisten in der DDR 1983 als den Mann darstellten, der, ebenso wie sie selbst, das gute Erbe der deutschen Geschichte verkörperte. Das alles sind groteske Verzerrungen – der Grad der Instrumentalisierung kannte keine Grenzen.

Lässt sich sagen, dass Luther immer stärker politisiert wurde, je größer der zeitliche Abstand zur Reformation war?

Lehmann: Nein. Die Motive haben sich geändert, aber der Grad der Instrumentalisierung war seit jeher außerordentlich hoch. 1917 etwa, in der Endphase des Ersten Weltkrieges, war keine Vokabel zu schwach, um die Erinnerung an Luther propagandistisch zu verwerten, damit die Deutschen weiterhin an den Sieg über ihre Feinde glauben sollten.

"Die Bilanz der Reformation war keinesfalls nur positiv - es gab keine Einbahnstraße in Richtung Freiheit und Erneuerung."

Nun steht 2017 die 500-Jahrfeier der Reformation an. Wie lässt sich einem neuerlichen Missbrauch begegnen?

Lehmann: Das ist eine große, um nicht zu sagen die eigentliche Herausforderung. Zunächst einmal sollte man einen Schritt zurückgehen und überlegen: Wie war eigentlich die tatsächliche Bilanz der Konfessionsspaltung in Europa? Hier gilt es nachdrücklich zu betonen, dass diese Bilanz keinesfalls ausschließlich nur positiv war, keinesfalls nur eine Art Einbahnstraße in Richtung Freiheit und Erneuerung darstellte. Im Gegenteil: Im Zuge der Konfessionskriege verloren viele tausend Menschen ihr Leben, viele Tausend mussten ihre Heimat verlassen. Deshalb scheint es mir notwendig, 2017 zunächst und vor allem an die gegenseitigen Verletzungen in der Vergangenheit zu erinnern. Theologisch gesprochen: Wechselseitiges Verzeihen wäre 2017 somit das erste Gebot der Stunde, gar Buße für die Fehlentwicklungen in der Vergangenheit. Und wenn man erkannt hat, dass die Erinnerung an 1517 nicht nur positiv ist, sollte man Schritt für Schritt versuchen, sich über die Ursachen und Folgen der Spaltung klarzuwerden – in der Hoffnung, dass diese überwunden werden kann.

Welcher Martin Luther stünde dabei im Zentrum?

Lehmann: Ein tiefgläubiger Luther, der eine theologische Alternative zum Renaissancepapsttum seiner Zeit bot.

Die Geschichte  der Reformation ist auch geprägt von Heroisierungen, Mythenbildungen, Legenden. Sie haben jüngst der EKD-Reformationsbotschafterin Margot Käßmann vorgeworfen, sie schöpfe aus dem "Arsenal der Lutherlegenden". Doch steckt nicht in jeder Legende auch ein wahrer Kern?

Lehmann: Ich darf Ihnen einige Beispiele nennen, etwa die Legende vom Apfelbäumchen. "Wenn morgen die Welt unterginge", soll Luther gesagt haben, "würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen." Diese Legende ist zuerst 1944 schriftlich belegt. Der Satz war 1944 als Trost gemeint, vielleicht auch als Durchhalteparole in der Endphase des Weltkriegs. Der wahre Kern dieser Legende ist also nicht bei Luther zu suchen, sondern in der Mentalität, gar der Verzweiflung der letzten Kriegsjahre. Oder die Legende von Luthers Wurf mit dem Tintenfass nach dem Teufel: Sie taucht zuerst in den 1580er Jahren auf. Angesichts der schwierigen Lebensverhältnisse herrschte in Deutschland im ausgehenden 16. Jahrhundert eine regelrechte Teufelshysterie. Viele Bücher über den Teufel sind damals erschienen, mehr als je zuvor und jemals später. So lag es nahe, dass einige Zeitgenossen auch darüber spekulierten, ob der Teufel nicht mit aller Macht versucht habe, Luther an der Übersetzung des Neuen Testaments in die Muttersprache der Deutschen zu hindern. Sie glaubten, Luther habe sich auf seine Weise durch den Wurf mit dem Tintenfass nach dem Teufel gewehrt. Der wahre Kern dieser Legende ist also die von Angst geprägte Mentalität der deutschen Protestanten eine Generation nach Luthers Tod.

Die Vorstellung von Luther, der mit dem Hammer vor der Wittenberger Schlosskirche steht und die 95 Thesen anschlägt, hat sich ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingeprägt.

Auch das Reformationsgeschehen selbst ist ja von Legenden umrankt …

Lehmann: Was sich wahrscheinlich am 31. Oktober 1517 in Wittenberg zutrug, kann ich hier nicht im Detail schildern. Es scheint inzwischen aber geklärt zu sein, dass Luther die 95 Thesen mit der Post als Beilage zu Briefen an seine kirchlichen Oberen verschickt und nicht an die Tür der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen hat. Erst nachdem die kirchliche Hierarchie nicht reagierte, hat er die Thesen an weitere Personen geschickt. Seine Freunde übersetzten und druckten die Thesen. Der wahre Kern der Legende von Luther mit dem Hammer ist somit der militante antikatholische Protestantismus späterer Zeit, der an einen Luther glaubte, der sich bereits am 31. Oktober mit einem demonstrativen Akt von seiner Kirche abwandte. Dieser Luther ist nicht der Luther vom Herbst 1517.

Luther war an jenem 31. Oktober noch eher Reformkatholik als Reformator?

Lehmann: Ja, vor allem. Ab November 1517 setzte zwischen Luther und den verschiedenen Vertretern seiner Kirche allerdings eine komplizierte Auseinandersetzung ein, und erst im Lauf der folgenden drei bis fünf Jahre wuchs Luther theologisch in die Statur des großen Reformators hinein. Das Jahr 1521 ist in diesem Zusammenhang wichtig. Der häufig zitierte Satz "Hier stehe ich und kann nicht anders", den Luther vor dem Kaiser auf dem Wormser Reichstag gesprochen habe soll, ist so aber nie gefallen. Dieser Satz wurde Luther schon wenige Jahre später zugeschrieben, Bei diesem Fall ist also die Zeitspanne zwischen Ereignis und Legende nicht allzu groß. Was Luther in Worms sagte, klingt anders: Mein Gewissen ist in Gottes Wort gefangen, ich kann und will nichts widerrufen, weil es gefährlich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Das ist ein nachdenklicher, frommer Mensch, der so spricht, kein trotziger Landsknecht. Auch hier erfasst die Legende also nicht den eigentlichen historischen Sachverhalt.

"Der Begriff 'Reformationsjubiläum' lässt sich konfessionsübergreifend zur Vorstellung von einem Jahrhundert der Kirchenreformen erweitern."

Wenn man die Legenden kritisch würdigt, muss man auch nach Begrifflichkeiten fragen. Ist mit dem Wort "Reformationsjubiläum", das das Ereignis von 2017 umschreibt, nicht schon eine Wertung verbunden?

Lehmann: Die Wertung ist nur dann problematisch, wenn sich der Blick allein auf den Protestantismus richtet und das Wort "Jubiläum" im Sinne von Jubilieren darauf bezieht. Aber wenn man sich daran erinnert, dass Luther zunächst eine Reform in einer ganz spezifischen Sache – nämlich des Ablasshandels – in seiner eigenen Kirche anstrebte und wenn man sich außerdem daran erinnert, dass auch die katholische Kirche in der Folgezeit in einen längeren Reformprozess eintrat, dann lässt sich der Begriff "Reformationsjubiläum" konfessionsübergreifend zur Vorstellung von einem Jahrhundert der Kirchenreformen erweitern. Wenn man den Begriff so interpretiert, scheint er mir nicht mehr problematisch.

###mehr-artikel###Reformbedürftig sind die Kirchen auch heute, vor allem angesichts einer verstärkten Tendenz zur Säkularisierung. In Deutschland sind je ein Drittel der Menschen katholisch und evangelisch, fast das gesamte restliche Drittel ist kirchenfern bis atheistisch. Welche Chance bietet 2017 mit Blick auf diese Situation?

Lehmann: Ich würde Ihre kirchensoziologische Bestimmung sogar noch erweitern. Unter dem Drittel Protestanten in Deutschland, die Sie erwähnen, sind nur noch etwa fünf Prozent aktiv, unter dem Drittel Katholiken nur noch etwa zehn Prozent. Die Situation ist dramatisch. Wenn man mit Blick auf die Säkularisierung glaubt und hofft, das Lutherjubiläum könne die kirchlichen Verhältnisse in Deutschland ändern, scheint mir das ziemlich aussichtslos. So weit ich das beurteilen kann, wurden auch durch die bisherigen Aktivitäten im Rahmen der Lutherdekade immer nur und immer wieder nur die kirchentreuen Kreise erreicht und niemand sonst. Ich fürchte, das wird 2017 kaum anders sein. Notwendig scheint es mir deshalb, den Blick über Deutschland und Europa hinaus zu richten. In vielen Ländern der Welt, in Ländern wie Tansania, Äthiopien, Brasilien, Chile und auch in den Vereinigten Staaten bestehen sehr viele lebendige lutherische Gemeinden, gibt es aktive wachsende protestantische Kirchen. Meine Hoffnung wäre, dass bis zum Jahre 2017 über die bereits bestehenden Partnerschaften hinaus alle deutschen Kirchengemeinden, katholische wie evangelische, Partnergemeinden in einem Land außerhalb Europas haben und dass es zu möglichst vielen direkten Begegnungen zwischen den Mitgliedern dieser Gemeinden kommt. Vielleicht springt dann der Funke über, vieleicht erwacht in einigen deutschen Gemeinden dann auch wieder neues Leben.

Was ließe sich denn noch tun, um das Gedenken an die Reformation stärker international auszurichten? Das Jubiläum von 2017 wird gegenwärtig eher als deutsche Angelegenheit wahrgenommen.

Lehmann: So wie ich es sehe, wurden die Fehler im Jahr 2008 mit der Besetzung der für die Lutherdekade verantwortlichen Gremien gemacht. Denn mit ganz wenigen Ausnahmen sitzen in diesen Gremien nur Deutsche und nur Protestanten. Kein Wunder, dass sich der Blick dieser Gremien zunächst fast ausschließlich nach innen gerichtet hat. Das ist aber zu wenig. Mit Blick auf 2017 sollte vielmehr eine aktive Kooperation mit den Christen in aller Welt erreicht werden und zwar durch eine Besinnung auf das eigentliche Thema christlicher Existenz in unserer Welt. Die entscheidende Frage lautet: Was heißt Religion, was heißt christliches Leben im Zeitalter der Globalisierung? Es kommt nicht darauf an, möglichst viele Touristen in die restaurierten Luthergedenkstätten zu holen. Entscheidend ist vielmehr die Verantwortung füreinander, globale Gerechtigkeit, die Hoffnung auf ein gemeinsames christliches Leben. Was mir für 2017 vorschwebt, ist somit ein Paradigmenwechsel hin zu einem verantwortlich geführten christlichen Leben in einer globalisierten Welt.

Junge Touristen an der Thesentür der Wittenberger Schlosskirche. Die Lutherstadt rechnet zum Reformationsjubiläum 2017 mit einem Besucheransturm.

Sie haben den Tourismus angesprochen – es wird natürlich 2017 eine Rolle spielen. Wie lässt sich das sinnvoll mit dem Luthergedenken verbinden, oder sind Theologie und Tourismus von vornherein schwer zu vereinbaren?

Lehmann: Das ist eine spannende Frage. Nichts gegen Tourismus, ich selbst bin ja gelegentlich Tourist. Und nichts gegen gute Theologie. Aber wie könnte eine Verbindung aussehen? Mein Vorschlag wäre, dass man einen "Lutherpfennig" oder "Luthergroschen" einführt – als eine Abgabe aller Reiseunternehmen, Restaurants und Hotels, die vom Luthergeschäft profitieren. Dazu könnten auch Spenden der "Luthertouristen" kommen. Dieses Geld sollte man für karitative Zwecke einsetzen, weltweit. Dieses Projekt könnte unter dem Leitwort "Christliche Solidarität 2017" stehen. Mir erscheint das als ein praktischer Vorschlag, der Sinn ergäbe im Hinblick auf eine Verbindung von Theologie und Tourismus. Es reicht ja nicht aus, dass man möglichst viele Touristen ins Land holt. Es sollte zusätzlich noch etwas Sinnvolles passieren.

"Viele von Martin Luthers Reformideen hat die katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil aufgenommen."

Viereinhalb Jahre vor dem großen Tag steht in der Debatte über das Reformationsjubiläum vor allem die Ökumene im Vordergrund – zwischen Lutheranern und Reformierten, zwischen evangelischen und katholischen Christen. Kann man 2017 überhaupt ökumenisch feiern wollen?

Lehmann: Das scheint mir nicht außerordentlich kompliziert, wenn man sich die Mühe gibt, auf Luthers Situation und Luthers Anliegen im Herbst 1517 einzugehen. Denn im Herbst 1517 war Luther, wie Sie vorhin sagten, ein Reformkatholik. Dieser Luther vom Herbst 1517 ist ein gemeinsamer Besitz aller Protestanten und auch der Katholiken. Die Reformideen des Martin Luther des Jahres 1517 können die großen Kirchen heute noch inspirieren. Vieles davon wurde auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil aufgenommen. Ich sprach schon von der notwendigen Erinnerung an die Fehler und Versäumnisse. Wenn man die ökumenische Dimension der Erinnerung an den Luther des Jahres 1517 stärker herausarbeitet, käme zur Buße noch der Dank hinzu, der Dank dafür, dass in der Christenheit immer wieder Reformer auftraten - wie Luther 1517, oder wie katholische Theologen im Zweiten Vatikanischen Konzil. Dank und Buße könnten ein starkes ökumenisches Band bilden. Wenn man 1517 so sieht, könnte man 2017 sogar gemeinsam feiern.

Hartmut Lehmanns Aufsatzsammlung "Luthergedächtnis 1817 bis 2017" ist bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen (Göttingen 2012, 328 Seiten, 89,99 Euro).

Hier und da wird die Erwartung geäußert, die katholische Kirche könnte 2017 die Exkommunikation Martin Luthers aufheben. Trauen Sie dem neuen Papst einen solchen bedeutenden Schritt zu?

Lehmann: Als ich das zum ersten Mal las, erkundigte ich mich bei kirchenrechtlich bewanderten Kollegen. Sie erklärten mir, dass man nur die Exkommunikation von lebenden Personen aufheben kann, nicht die von Toten. Möglich und wünschenswert wäre allerdings eine angemessene Würdigung der Reformbemühungen Luthers von katholischer Seite und zugleich eine Entschuldigung für die Entgleisungen, für die Verteufelung Luthers von katholischer Seite. Möglich und notwendig wäre zugleich aber auch eine protestantische Entschuldigung für die maßlose Verteufelung des Papstes und der katholischen Kirche durch Luther und in der Zeit seit Luther. Das  sind meines Erachtens längst überfällige, im Hinblick auf 2017 zudem konstruktive Schritte.

Haben Sie persönlich schon eine Vorstellung, was Sie am 31. Oktober 2017 gerne tun würden?

Lehmann: Zwar sollte man in meinem Alter keine allzu großen Zukunftspläne machen, aber ich kann Ihnen sagen, wie ich den 31. Oktober 2017 gerne feiern würde: Gemeinsam mit meiner Frau in einem ökumenischen Gottesdienst der großen Kirchen und unter Einbeziehung der Freikirchen, die auch zur Geschichte der Christenheit in der Neuzeit gehören. Der Tenor, den ich mir dabei wünsche: Gegenseitiges Verzeihen und gemeinsames Danken für Reformer, die über die Jahrhunderte hinweg eine Erneuerung des christlichen Lebens in den Gemeinden angestrebt haben.