Jan Roß
Foto: Nicole Sturz
Der Journalist und Buchautor Jan Roß.
Jan Roß: "Wir brauchen ein Christentum, das nicht labert"
"Wie wollen wir glauben? Gedanken über die Kirche der Zukunft", so heißt eine neue Serie bei evangelisch.de. Zum Auftakt analysiert der "Zeit"-Journalist und christliche Buchautor Jan Roß schonungslos die religiös erkaltete Gesellschaft in Europa. Er verrät, was ihm "Nahrung" gibt in einer Zeit "geistiger Verkümmerung" – und wie die Kirche von morgen aussehen könnte.

Herr Roß, wo ist Ihre geistliche Heimat?

Jan Roß: Ich bin evangelisch. Meine Arbeit hat es mit sich gebracht, dass ich mich eher mit katholischen Themen und Figuren befasst habe. Vor einigen Jahren habe ich ein Buch über Papst Johannes Paul II. geschrieben. Er hat meine Perspektive auf Kirche und Glauben stark bestimmt. Aber ich habe aber nie daran gedacht, zu konvertieren. Ich lebe mit einem Pluralismus der Konfessionen und finde es gar nicht so schlimm, dass es diese verschiedenen Färbungen gibt. Als Gottesdienstbesucher gehöre ich zur Laufkundschaft. Aber die Bibellektüre ist mir unentbehrlich.

Wie würden Sie einem religionsfernen 25-Jährigen den Kern des Glaubens erklären?

Roß: Wie kommen Sie auf einen 25-Jährigen?

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Weil ich denke, dass 25-Jährige schon ein bisschen gereift sind – aber auch noch offen, interessiert, nicht zu festgefahren.

Roß: Mir fällt es schon schwer, meinen eigenen Söhnen zu erklären, warum um Himmels willen sie das alles interessieren soll. (Denkt nach.) Ich würde dem 25-Jährigen die Frage stellen: "Wie willst du leben und wer willst du sein?" Und ihm versuchen zu zeigen: Religion ist das, was dir ermöglicht, in großen Horizonten und mit größerer Tiefe zu leben. Sie gewährt dir Zugang zu etwas Unausschöpflichem. Sie ist Nahrung gegen die geistige Verkümmerung.

Der Dichter Paul Claudel hat gesagt: "Das Unersättliche kann sich nur ans Unerschöpfliche wenden."

Roß: Das ist es! Großartig ist hier die Christophorus-Legende: Da macht sich ein Mann auf und sagt: "Ich will nur dem größten Herrn dienen!" Und nichts genügt ihm, bis ihm Christus begegnet. Deshalb würde ich dem religionsfernen 25-Jährigen sagen: Lass dir deine Unersättlichkeit nicht ausreden! Werde nicht genügsam. Die Suche nach Gott ist Ausdruck einer Menschlichkeit, die sich nicht billig abspeisen lässt.

Missionsversuche finden Sie also legitim?

Roß: Ja, ich halte sie für eine Respektsbezeugung gegenüber dem Anderen. Wenn ich davon überzeugt bin, dass der Glaube etwas Gutes ist, dann ist es doch logisch, dass ich andere daran teilhaben lassen will. Mission bedeutet, dass ich den Anderen ernst nehme, dass ich nicht gleichgültig sage: "Glaub du doch, was du willst!", sondern dass ich mich damit auseinandersetze, was dem Anderen wichtig ist.

"Ich kann zum Beispiel Homosexualität beim besten Willen nicht als verwerflich empfinden"

Weite Teile der Gesellschaft assoziieren die Kirche – insbesondere die römische – immer noch mit rigider Sexualmoral und Leibfeindlichkeit. In Ihrem aktuellen Buch "Die Verteidigung des Menschen" schlagen Sie unter anderem eine radikale Entflechtung von Eros und Theologie vor. Wie soll die aussehen?

Roß: Ich glaube, mit dem Sex – wie übrigens auch mit dem Leid – wird man theologisch nicht fertig. Es gibt Zonen menschlichen Lebens, die in der biblischen Überlieferung unterbelichtet sind. Ich kann zum Beispiel Homosexualität beim besten Willen nicht als verwerflich empfinden. Was Paulus dazu äußert und was auch schon im Alten Testament steht – ich kann mir nicht helfen, aber ich halte das für Quatsch! Es sind irregeleitete Energien, wenn sich einige in der Kirche so wahnsinnig darauf fixieren. Sie sollten sich auf die Dinge konzentrieren, die wirklich moralisch relevant sind, zum Beispiel den Lebensschutz. Da ist wirklich etwas zu verteidigen!

Was ist aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung für den deutschen Protestantismus?

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Roß: Egal ob evangelisch oder katholisch: Zwar leben wir auf einem gründlich vom Christentum geprägten Kontinent. Aber unsere Gesellschaften sind religiös fast völlig erkaltet. Die riesige Herausforderung ist: Wie kann hier neue Belebung gelingen? Die Situation von uns Christen ist doch: Wir marschieren heute nicht mehr in Kolonnen, sondern gehen vereinzelt. Wir leben den Glauben auf weit voneinander entfernten Außenposten.

Und wenn wir uns auf Glaubensfesten wie dem Kirchentag treffen, vergewissern wir uns, dass wir viele sind.

Roß: Ja, solche Feste können eine Kraftquelle sein, um dann gestärkt auf die jeweiligen "Missionsstationen" zurückzukehren. Mein Ideal wäre ein weit verzweigter Bund von Freunden, die sich gegenseitig im Blick behalten und gemeinsam am selben Projekt arbeiten.

Welchen Dienst schulden die Christen der heutigen Gesellschaft?

Roß: Europa braucht ein Christentum, das nicht labert, sondern Güte und Liebe ausstrahlt. Zugleich darf es kein schlichtes Christentum sein, denn dazu ist das Publikum hier zu kritisch und abgebrüht. Die spannende Frage ist: Wie kann die Kirche heilig sein und gleichzeitig auf der Höhe der Zeit?

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Mit welchen anvertrauten "Pfunden" können wir da wuchern?

Roß: Der Protestantismus hat vielleicht mehr als der Katholizismus die Chance, die Freiheit zu integrieren in den Glauben, so dass Emanzipationsprozesse nicht gleich antikirchlich wirken. Das ist seine besondere Chance: die Heiligung des Alltags, eine Weltlichkeit im guten Sinne. Sein Defizit liegt auf Seiten der Spiritualität. Wir Protestanten müssen uns fragen: Wie vermeiden wir, dass unsere Offenheit zur Welt eben nur noch Weltlichkeit ist? Wo kommt die geistliche Substanz her?

Worauf sollte sich die Kirche stärker konzentrieren? Und was besser loslassen?

Roß: Ich finde die meisten politischen Kommentare komplett entbehrlich. Ich will von der Kirche nichts über Drohneneinsätze in Afghanistan hören oder zu Hartz IV. Das meiste davon wirkt wohlfeil und inkompetent.

Kirchenvertreter sollten sich nicht mehr zu moralischen Fragen äußern?

Roß: Doch, aber nur dort, wo es die wirklich fundamentalen Fragen des Lebens berührt: Sie sollen das Menschenbild des Kreuzes verteidigen, die Identifikation mit den Schwachen. Sie sollen sagen, worauf es im Leben ankommt. Vor allem sollen sie ihre geistliche Geschichte hochhalten und verteidigen. Sie sollen ihre eigene Sprache pflegen, sie sollen von belangvollen Dingen wie "Sünde" sprechen und von "Erlösung". Sie sollen sichtbar ihre Gottesdienste feiern, sich daran freuen – und sich nicht dafür schämen, dass ein Gottesdienst ein Gottesdienst ist.

"Die entscheidende Frage ist: Macht man einfach selbstbezogen seinen eigenen Kram? Oder will man den Leuten draußen etwas sagen?"

Wie stellen Sie sich die Kirche in 30 Jahren vor?

Roß: Global betrachtet, habe ich den Verdacht: Das, was wir als Mainstream-Protestantismus kennen, wird verschwinden. Die evangelischen Kirchen der Zukunft werden evangelikale Kirchen sein wie heute schon vielfach im Süden der Welt oder in den Vereinigten Staaten. Und es wird weiter eine große römisch-katholische Kirche geben, deren künftige Gestalt und Ausrichtung mir allerdings unklarer sind, als ihre imponierende weltgeschichtliche und hierarchische Machtform nahelegt.

Was macht Sie so pessimistisch in Sachen "Mainstream-Protestantismus"?

Roß: Wie soll eine evangelische Kirche überleben, die nicht zu sagen weiß, was sie glaubt, und die kaum noch Gläubige hat? Das ist natürlich zugespitzt, denn es gibt ja innerhalb der evangelischen Kirche eine große Vielfalt. Aber die Gefahr der inneren Aushöhlung besteht.

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Wie können wir ihr begegnen?

Roß: Die alten kirchenpolitischen Gegensätze finde ich weitgehend steril und unfruchtbar. Die eigentliche Alternative scheint mir nicht "Liberal oder konservativ?" zu sein, sondern "Konservativ oder missionarisch?"

Was meinen Sie damit?

Roß: Die entscheidende Frage ist: Macht man einfach betriebsam und selbstbezogen seinen eigenen Kram? Egal, ob das nun traditionalistischer oder fortschrittlicher Kram ist. Oder will man den Leuten draußen etwas sagen, will man werben und etwas aufbauen? Das ist ja das Wesentliche an diesem Bild von den Missionsstationen: Man muss nach außen gehen. Es geht nicht um uns, wir dürfen nicht bei der Beschäftigung mit uns selbst stehen bleiben. Das gilt für Katholiken wie für Protestanten.