Rechts arm, links reich. Auch das könnte er sagen. Aber in solchen Kategorien denkt Lars Kessner nicht. Das neue Gemeindezentrum seiner Hoffnungsgemeinde will beides: Fortschritt und Verbindung. Kessner steht mitten im Spannungsfeld. Seine Hoffnungsgemeinde in Frankfurt umfasst – zumindest in Teilen - das Bahnhofsviertel, Gutleutviertel, Europaviertel, sowie Westend und Westhafen. Das Bahnhofsviertel nennt Kessner "schrill". Trotz schlechten Rufs, Drogen und Prostitution erlebt das Viertel zurzeit einen Aufschwung. "Junge Kreative ziehen hier her, mit ihren Kindern. Sie werten das Viertel natürlich enorm auf." Kessner beschreibt damit ein in der soziologischen Stadtentwicklung als Gentrifizierung berüchtigtes Phänomen.
Gentrifizierung, das ist die Aufwertung gewisser Stadtbezirke, indem junge Leute, Künstler und Freigeister in ein eher unattraktives Viertel ziehen. Nach und nach wird das Viertel interessanter und lockt immer mehr Zuzügler an, die Mietpreise steigen, statt Kaffee gibt es Latte Macchiato mit Caramel-Flavour, Alteingesessene werden verdrängt. Die Zugezogenen der ersten Stunde erkennen, dass "ihr" Viertel zum Mainstream verkommen ist und suchen sich neues Terrain.
Dieser Trend schwappt im Westhafen zum Höhepunkt. Ehemals Binnenhafen mit angeschlossener Industrie, jetzt ein Stadtteil mit Yachthafen und eigenem Internetauftritt. Die Website spricht von Aufenthaltsqualität, verspricht urbanes "Wohlfühlklima“.
Vor allem das alte, gestandene Milieu des Gutleutviertels. Der Ruf des syrischen Feinbäckers reicht längst weiter als der Duft seiner süßen Spezialitäten. Katholiken kommen hier aus Polen oder Italien. Das Miteinander ist schon mal rau, die Gebäude samt Kirche schroff. "Die Gutleutkirche ist ästhetisch nicht so wertvoll“, gibt selbst Kessner zu. Sie zwängt sich zwischen braunen Häusern. Duckt sich weg. "Und doch war die Kirche für die Leute ihr Wohnzimmer." Es war eine klar definierte Gemeinschaft, erst ging mal in den Gottesdienst, danach zwei Stockwerke höher in die Kaffeestube. Dort gibt es günstiges Mittagessen, das man sich auch leisten kann, wenn man als "arm" gilt.
Die einen fanden in der Gutleutkirche Gemeinschaft, ja Familie. Der ein oder andere Besucher, der sich in die Gutleutkirche verirrt hatte, ging schnell wieder raus – "des Raumes, nicht der Leute wegen", betont Kessner. Seit Advent 2012 ist die Gutleutkirche eine leere Hülle. Etwas Schickeres musste her. Eine Kirche soll schließlich ein Ort sein, zu dem alle gerne gehen. Bewohner des Gutleutviertels und des Westhafen.
Mit Gegensätzen kennt sich die Gemeinde aus. Im Westend sind sie Nachbarn der Großbanken und großen Wirtschaftsplayer. Hier lebt es sich komfortabel in Gründerzeitvillen, die Konfirmanden-Kurse von Kessner sind voll. Selbstverständlich wird hier Evangelische Religionslehre vom Pfarrer persönlich in der Schule unterrichtet. Die dortige Matthäuskirche soll ein Ort "gelungener kirchlicher Kommunikation“ sein.
Keine zwei Kilometer entfernt, auf der anderen Seite des Bahnhofs, steht Frau Willig in "ihrer" Kaffeestube und schimpft. Ämter verteilen Essensgutscheine, damit kostet das Mittagessen nur noch einen Euro. Frau Willig vermutet, dass sich viele so ein günstiges Mittagessen bloß erschleichen – ohne wirkliche Not. In der Schule des Gutleutviertels unterrichtet nicht der Pfarrer Religion. Im Westhafen ist alles noch neu und jung und frisch. Hier ist Pfarrer Kessner beschäftigt mit Taufen. Kinder im Konfirmationsalter gibt es noch nicht.
Eine Zeitenwende hat sich vollzogen. Und vollzieht sich weiterhin. Kessner steht nicht nur mittendrin, er ist Teil von ihr. Seit drei Jahren ist er hier Pfarrer, im Team mit Jutta Jekel. Als Pfarrer muss sich Kessner auf jedes Milieu einstellen. In seiner Rolle als Seelsorge muss er die unterschiedlichsten Probleme ernstnehmen. "Ich bekam einen Anruf aus dem Westhafen, ob ich vorbeikommen könnte“, das war an einem Sonntag. Aber bitte nicht am Nachmittag, da sei der Gatte schon wieder im Büro. Im Westhafen hat man schon mal Probleme mit der Nanny. Im Gutleutviertel konfrontieren Einsamkeit und Armut den Pfarrer.
Gemeinschaft bedeutet Halt, Kirche kann das bieten. Ein Seelsorger macht keine Unterschiede. Kessner ist engagiert und packt an. Nicht immer gelingt das Brückenschlagen. Aber wenn es richtig kalt wird, bedienen die Reichen die Obdachlosen bei der Winterspeisung. Bloß Deckmäntelchen für das schlechte Gewissen kurz vor Weihnachten? Kessner wertet nicht. Er ist dankbar für Unterstützung. Er hat außerdem einen Kinderchor gegründet. Früher saßen im Gottesdienst der Matthäuskirche im reichen Westend schon mal nur drei, vier Besucher. Heute sind in seinem Kindergottesdienst fast alle Plätze belegt. Familien aus dem Westhafen machen den größten Teil aus.
Insofern ist das neue Gemeindezentrum auch ein Zugeständnis an die neue Klientel. An den Westhafen. Gentrifizierung kommt in Kessners Wortschatz gar nicht vor. Viel lieber spricht er über den Kinderchor, den er aufgebaut hat. Die Hoffnungsgemeinde ist im Wandel. Sie passt damit gut in die Zeit. Arm, reich, gentrifiziert. Das interessiert Kessner nicht. Was würde es auch ändern, darüber nachzudenken. Er macht lieber was. Den Gottesdienst voller.
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