Schon anderthalb Stunden vor dem Auftritt der Kanzlerin ist in der Messehalle auf dem evangelischen Kirchentag in Hamburg fast jeder Papphocker besetzt. "Wir wären ja sonst nicht mehr reingekommen", sagt ein Jugendlicher aus einer Schweizer Reisegruppe, die bereits ausharrt. Die jungen Leute sind gespannt, was die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Hauptthema des Kirchentags zu sagen hat: Gerechtigkeit.
Im längst begonnenen Wahlkampf geht es ausnahmsweise nicht um Gerechtigkeit im eigenen Land, die Verteilung von Einkommen, Vermögen und Erhebung von Steuern. Es geht um Gerechtigkeit global - um die Situation der Armen im Süden und den Beitrag der Reichen, um Armut zu lindern und dem Klimawandel entgegenzuwirken. "Wir leben im Moment in einer Welt, die auf Kosten der Zukunft lebt", konstatiert die Kanzlerin. Die Bibel gebe den Auftrag, die Schöpfung zu bewahren für die nächsten Generationen, sagt die Protestantin und Pfarrerstochter Merkel.
Deutschland als Öko-Vorbild
Der Klimawandel und die Umweltzerstörung sind Hauptthema der Diskussion mit der Kanzlerin. Es ist längst bekannt, dass unter der Erwärmung der Erde diejenigen leiden, die schon am wenigsten haben. In den Ländern südlich der Sahara werden sich die Folgen der Klimaveränderung den Vorhersagen von Forschern zufolge am verheerendsten für die Menschen auswirken.
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Vor den rund 7.000 Zuhörern in der Messehalle betont die Kanzlerin die Vorbildfunktion Deutschlands, um dies zu verhindern. "Wir haben eine Bringschuld zu zeigen, wie man Wachstum, Wohlstand und Nachhaltigkeit zusammenbringen kann", sagte sie. Applaus brandet auf.
2015, wenn die Staaten feststellen werden, dass sie die sogenannten Milleniumsziele zur Reduzierung der Armut nicht eingehalten werden, müssten neue Ziele formuliert werden, sagt Merkel. Dabei dürfe Nachhaltigkeit zum Schutz der Erde nicht getrennt von Entwicklungshilfe betrachtet werden, sagt Merkel. Erst, wenn beides zusammengedacht würde, kämen die "richtigen Ziele" heraus. Zustimmung erhält sie von Diskussionspartnerin Helen Clark, Leiterin des UN-Entwicklungsprogramms UNDP. In der Entwicklungspolitik gehe es heute um zwei Dinge: den Schutz der Menschen auf der Erde und der Erde selbst, sagt sie eindringlich.
Kritische Forderungen aus den Lautsprechern
Die beiden Politikerinnen sind sich einig, dass dies ein langer Prozess ist. Für die Kirchentagsteilnehmer haben sie deswegen auch konkrete Ideen für Schritte im Kleinen. Angela Merkel spricht sich vor dem Hintergrund der Katastrophe in einer Textilfabrik in Bangladesch, der mindestens 430 Menschen zum Opfer fielen, für genauere Herkunftsnachweise auf Kleidungsstücken aus. Europa könnte sich dafür einsetzen, fordert sie. Verbraucherschützer beklagen immer wieder, dass auf Kleidungsstücken zwar das Land der Endproduktion, nicht aber die Kette der Entstehung von Jeans und T-Shirt sichtbar ist.
Helen Clark nickt. Nur durch transparente Informationen könnten Verbraucher bewusste Entscheidungen treffen. "Und Konsumenten haben Power", ruft sie dem Kirchentagspublikum zu. Es antwortet mit langem Applaus.
Allgemein erntet die Kanzlerin viel Zustimmung für ihre Forderungen. Aber auch die Kritiker waren gut vorbereitet. Bei ihrem Gang über den Markt der Möglichkeiten wird sie mit Forderungen aus Lautsprechern begleitet. "Entwicklungspolitik ist Friedenspolitik", schallt es heraus. Es ist vom Bundeswehreinsatz in Mali die Rede und den Plänen, Drohnen anzuschaffen. Um diese Seite globaler Gerechtigkeit ging es bei der Diskussion zuvor nicht.