"Hier bin ich angekommen am Ende meiner Tauglichkeit", sagt der junge Heman, "am Ende meines Verlangens, am Ende meiner Vorstellungskraft, am Ende aller Unschuld – gewiss." Er steht vor der schwierigen Entscheidung, ob ein Tyrannenmord gerechtfertigt ist. Heman überwindet nach langem Ringen seine ethisch-theologischen Bedenken, doch der Anschlag auf den Diktator scheitert, die Welt ist ohnehin nicht mehr zu retten. Der Attentäter wird zuvor noch hingerichtet.
###mehr-artikel###Heman, ein Wiedergänger des berühmten evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), ist die Hauptfigur in der Oper "Vom Ende der Unschuld", die als Auftragswerk des Hamburger Kirchentages am Donnerstagabend im Kulturzentrum Kampnagel uraufgeführt und auch an den folgenden beiden Abenden gezeigt wird. Den Text haben Theresita Colloredo und David Gravenhorst geschrieben, die Musik stammt von Stephan Peiffer. Regie führt Kirsten Harms, ehemalige Intendantin der Deutschen Oper Berlin.
Das musikalische Drama behandelt Motive aus dem Denken des von den Nationalsozialisten ermordeten Theologen Bonhoeffer in Form eines Gleichnisses. Ein landwirtschaftlicher Betrieb ist durch anhaltende Trockenheit in großer Not. Die Besitzerin des Hofes, Angathe, und deren Kinder Germa und Heman sind verzweifelt. Da tritt der Verwandte Drako auf und verspricht Linderung durch den Bau eines Staudamms. Während sich Germa durch Charme und Tatkraft des Cousins verführen lässt, plagen Heman von vornherein innere Bedenken
Hymne und Lynchjustiz
Denn durch den Staudamm werden die benachbarten Güter von der Wasserversorgung abgeschnitten – auf lange Sicht bedeutet das Krieg. Im Ringen zwischen Heman und seiner Schwester samt deren Mann Drako, der rasch eine diktatorische Herrschaft errichtet hat, entwickelt sich ein Lehrstück über moralisches Handeln, auch über die Verrohung und Militarisierung einer Gesellschaft. Als einer der Männer am Hof die Hymne auf das Brautpaar nicht mitsingen will, verfällt er fast der Lynchjustiz der uniformierten Masse.
###mehr-links###Heman hält vorerst seinen christlichen Glauben dagegen. Doch Germa zerfleddert die Bibel, die er wie er einen Schatz hütet, und sagt: „Ich kann nicht leben wie dein Jesus.“ Weltliche Heilslehren sollen die traditionelle Frömmigkeit tilgen: Drako platzt ins Mittagsgebet und lässt die vermeintliche Heilswirkung des Staudamms hochleben. Schritt für Schritt entsagt die Gesellschaft der Gottesfurcht, auf der Strecke bleibt die Sittlichkeit. Germas Bruder ist verzweifelt, schließlich wird er vom Hof verdrängt, seine Mutter stirbt.
"Was ich weiß und was ich bin, zwingt mich zur Tat." Mit diesem Satz auf den Lippen kehrt Heman allerdings wenig später zurück und wagt das Ende seiner Unschuld. Die Bibel in der einen Hand, den Revolver in der anderen, ringt er sein Gewissen nieder und schießt auf Drako – doch in der Waffe sind keine Kugeln. Der Diktator wittert prompt die "Vorsehung", ehe das Inferno über den Hof hereinbricht: Die Nachbarn haben den Staudamm gesprengt, eine tödliche Überschwemmung ist die Folge.
Von Bach bis atonal
Stephan Peiffers Musik passt sich dem düsteren Szenario der Oper exzellent an. Sie hat im Ganzen einen flirrenden, nervösen Charakter. Immer wieder sind Klänge wie aus Bachkantaten zu hören, auch spätromantische Sequenzen wie von Strauss oder Bruckner. Es überwiegt indes die beklemmende, zuweilen schmerzhafte atonale Verzerrung. Kirsten Harms Inszenierung spielt virtuos mit den szenischen Möglichkeiten im Kampnagel – ein leerer schwarzer Raum, das Orchester beherrscht die Bühne, Chor und Solisten passen sich ein.
###autor###Auch musikalisch und darstellerisch ist "Vom Ende der Unschuld" ein herausragendes Erlebnis. Schirin Partow (Angathe), Julia Henning (Germa), Krzysztof Szumaniski (Drako), Na’ama Goldman (Mete) fesseln ebenso wie Ferdinand von Bothmer als Heman. Dirigent Matthias Hoffmann-Borggrefe leitet nicht nur seine eigenen Chöre von Sankt Nikolai mit beeindruckender Energie, sondern auch die Hamburger Camerata, unterstützt von "The Young ClassX". Eine Auftragsoper für den Kirchentag: Das Experiment hat sich gelohnt. Bleibt zu hoffen, dass das Werk danach auch auf anderen Bühnen zu sehen sein wird.
Uraufführung am Donnerstag, 2. Mai, 19.30 Uhr im Kulturzentrum Kampnagel (K6), Jarrestraße 20, Hamburg. Weitere Aufführungen: 3. und 4. Mai, jeweils 19.30 Uhr am gleichen Ort. Besitzer einer Kirchentagsdauerkarte erhalten kostenlose Einlasskarten ab Mittwoch, 1. Mai, 18.30 Uhr, beim Teilnehmerservice auf dem Messegelände.