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Der Spion Gottes: Sören Kierkegaard
Im 19. Jahrhundert suchte ein exzentrischer und genialer Däne den Sinn des Lebens in einer unsicheren Welt. Kierkegaard erforschte die Religion und die Abgründe der menschlichen Seele - und wurde damit auch zu einem Pionier der modernen Psychologie.
05.05.2013
epd
Stephan Cezanne

Sören Kierkegaards Talent zum Unglücklichsein ist legendär. Dem hochbegabten Sohn eines reichen dänischen Wollhändlers stand die Welt offen. Auf ihn warteten nach dem Studium eine standesgemäße Ehe und eine sichere Karriere als Theologe - doch er wählte den Bruch: Aus heute nur schwer verständlichen Gründen löste Kierkegaard (1813-1855) seine Verlobung mit der neun Jahre jüngeren, bildhübschen Regine Olsen. Es war ein Skandal im bürgerlichen Kopenhagen. Die junge Frau soll darüber früh ergraut sein und heiratete bald einen anderen. Er hingegen pflegte seine Schwermut und begann ein Leben als Schriftsteller. Vor 200 Jahren, am 5. Mai 1813, wurde Sören Aabye Kierkegaard in Kopenhagen geboren. Er ist eine der großen Gestalten der europäischen Geistesgeschichte.

Der geniale Sonderling unternahm nach eigenen Worten "Inlandsreisen" in sein Bewusstsein, lotete die Seele des Menschen in allen Höhen und Tiefen aus und inspirierte so später die Psychoanalyse. Menschliche Grundstimmungen wie Zweifel, Leiden oder Sorge, Trost und Verlust aber auch verborgene Sehnsüchte, etwa sexuelle, waren Gegenstand seiner radikalen Analysen. Kierkegaard ist Freudianer, "lange bevor Freud auf den Plan tritt", wie sein Biograf Joakim Garff urteilt.

Sein Einfluss auf die europäische Kulturgeschichte ist immens: Nicht nur Dichter wie Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Robert Musil, Max Frisch, Samuel Beckett oder Thomas Bernhard wurden von ihm inspiriert. Auch Philosophen wie Karl Jaspers, Martin Heidegger oder Jean-Paul Sartre bezogen sich auf ihn.

"Den Ernst der Botschaft des Neuen Testaments zum Leuchten bringen"

Kierkegaards Stern ging erst im 20. Jahrhundert richtig auf. Theologen verehren ihn bis heute als "Orakel", vor allem bei Protestanten gilt der eigenwillige Däne als gottbegnadeter Sinndeuter. In einer Zeit des verweltlichten Christentums wollte er "den Ernst der Botschaft des Neuen Testaments zum Leuchten bringen", weiß der Kirchenhistoriker Karl Kupisch (1903-1982). Kierkegaard nannte sich selbst einen "Spion Gottes". Zudem gilt er als Vater des Existenzialismus, eine der philosophischen Hauptströmungen des 20. Jahrhunderts.

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Vielen bleibt Kierkegaard bis heute ein Rätsel. "Wohl selten ist eine Persönlichkeit komplizierter gewesen als die seine", urteilte der große katholische Religionsphilosoph Romano Guardini (1885-1968). Der Schweizer evangelische Kirchenhistoriker Walter Nigg (1903-1988) beschreibt den tiefgründigen Dänen als einen "der geheimnisvollsten Menschen, die je gelebt haben". Nigg: "Echt nordische Gequältheit war ihm eigen, welche alle Heiterkeit des Lebens mit düsterem Ernst überschattete". Kierkegaard sei ein Mensch gewesen, der "auch die glücklichsten Gaben durch schwermütige Religiosität zerstörte".

Sein von außen gesehen so ereignisarmes Leben - bis auf drei Reisen nach Berlin blieb er in Kopenhagen - "wurde mit einer Intensität und Engagiertheit gelebt, die es zu einem einzigartigen inneren Drama machten", erklärt der dänische Religionsphilosoph Johannes Sløk: "Dessen äußerer Ausdruck waren Schriften, die sich in ihrer Tiefe und ihrem Reichtum nicht auf gewöhnliche Weise einordnen lassen. Sie sind zugleich Literaturkritik, Dichtung, Philosophie, Religion, Psychologie, Erbauung und Polemik."

In seinem vielleicht bedeutendsten Werk, der Schrift "Der Begriff Angst" von 1844, unterscheidet Kierkegaard zwischen Angst und Furcht. Während sich die Furcht auf etwas Konkretes richtet, bleibt die Angst unklar. Die Angst habe Kierkegaard zufolge keinen Gegenstand, sondern sei der Beweis dafür, "dass der Mensch zu etwas Höherem bestimmt ist, als nur dazu, ein Naturgeschöpf zu sein", legt der Kierkegaard-Kenner Peter P. Rohde aus.

Kampf gegen eine selbstgefällige lutherische Kirche

Seine letzten Jahre waren ausgefüllt vom Kampf gegen eine aus seiner Sicht selbstgefällige lutherische Kirche. Die Pfarrer der dänischen Staatskirche schalt Kierkegaard "Falschmünzer des Christentums" und warnte vor ihren seichten Predigten: "Fliehe die Pfarrer, fliehe sie, diese Schändlichen, deren Gewerbe es ist, dich daran zu hindern, daß Du auch nur aufmerksam werdest auf das, was wahres Christentum ist." Diese Sicht war extrem, verhalf der protestantischen Theologie in der Folge aber zu mehr Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit.

Das dänische Ausnahmegenie war jedoch kein Monster. Zeitgenossen schildern ihn als "gelassenen, meist heiteren Menschen mit der besonderen Gabe, auf andere mit großer Sensibilität einzugehen, ohne dabei Grenzen der Intimität zu verletzen oder aufdringlich zu wirken", weiß der Kierkegaard-Spezialist Tilo Wesche. Zeichnungen zeigen einen freundlichen Herrn mit einem satirischen Lächeln. Am 11. November 1855 starb Sören Kierkegaard im Alter von nur 42 Jahren. Sein väterliches Erbe war fast aufgebraucht, als er kurz vor seinem frühen Tod auf offener Straße einen Zusammenbruch erlitt. Sein Lebenswerk widmete er seiner unglücklichen Jugendliebe Regine.