Foto: Karl Forster
Farbenfrohe Blumenmädchen: Szene aus dem 2. Aufzug des Kölner "Parsifal".
Wagners "Parsifal": Abendmahl auf kleinstem Nenner
Die katalanische Theatergruppe La Fura dels Baus hat mit Inszenierungen von Werken von Berlioz, Stockhausen, Wagner und Widmann den ersten epochemachenden Stil des Musiktheaters im 21. Jahrhunderts kreiert. Doch bei der "Parsifal"-Neuinszenierung im blauen Zelt am Kölner Dom deckt das Multimediaspektakel die zeitlose parachristliche Botschaft des Stoffes weitgehend zu - und das ausgerechnet im Jubiläumsjahr zu Richard Wagners 200. Geburtstag.

"Erbarmen! Erbarmen!" Drinnen ein Aufschrei voller Leid, Verzweiflung, Schmerz. Die ergreifende Klage des Amfortas erfüllt den Riesenraum unter dem blauen Kuppelzelt der Kölner Oper. Von draußen dringen bisweilen die erbarmungslosen Begleitgeräusche der modernen Zivilisation herein - bremsende Züge oder das Martinshorn eines Polizeifahrzeugs. In tief anrührenden Momenten wie der Verzweiflung des Gralskönigs bilden die akustischen Diskrepanzen einen seltsamen Kontrast. Drinnen, im Ausweichquartier der wegen Sanierung des Hauptgebäudes nomadisierenden Kölner Bühnen zwischen Hauptbahnhof und Rhein,  vollzieht sich einmal mehr der wundersame Entwicklungsroman in Wagners sogenanntem Bühnenweihfestspiel namens "Parsifal".

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In seiner letzten, Menschen faszinierenden wie polarisierenden Oper erlebt ein junger Naiver seine Wandlung zum empathiefähigen Menschen, der über Stufen des Leidens und Mitleidens Barmherzigkeit und (Nächsten-)Liebe lernt. Draußen, in stummen Dienern an U-Bahn-Schächten, künden die Schlagzeilen der Boulevardpresse von den jüngsten Gräueltaten in der Gegenwart. Es sind die Insignien einer Gesellschaft, die von Materialismus, Ausbeutung und Inhumanität beherrscht wird und deren Konsummaschinerie den Verlust von zentralen Werten, Mitleid etwa, laut tönend zu überdecken sucht.

Die zufällige Syn- wie Antithese von drinnen und draußen ist fast schon für sich genommen eine Inszenierung. Die Kölner Deutung der Botschaft von der Erlösung des Menschen durch Empathie, die Wagner aus christlichen, buddhistischen, maurischen und germanischen Mythen schöpfte, die sich aus der Bergpredigt Jesu ebenso wie dem Werk eines Mahatma Gandhi oder eines Albert Schweitzer ableiten lässt, ist weit von den Ritualen der sattsamen Karfreitagsaufführungen entfernt. Dafür bürgt schon das Regiekonzept von Carlus Padrissa, Gründungsmitglied der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus.

Die Gralsgemeinschaft, das sind wir

Diese ist auf Europas Bühnen mit dem Ziel unterwegs, ein Musiktheater unter Einbindung der modernen Kommunikationstechniken sowie des Publikums aufzubauen. Inszenierung bei ständigen Innovationen in Bühnentechnik und Bühnenräumen heißt für La Fura, der Aneignung der großen Stoffe heute adäquate Ausdrucksformen zu erschließen. Die sakrale Welt des Grals ist in dieser Sicht weder Mythos noch Kitsch. "Die Gralsgemeinschaft", hat Padrissa seine Idee für Köln erläutert, "sind genauso wir." Ihre Krise, insbesondere die Identitäts- und Lebenskrise von Amfortas und seines Antipoden Klingsor, lasse sich zugleich als "die Zerrissenheit des modernen Menschen beschreiben".

Parsifal (Marco Jentzsch) in der Kölner Inszenierung der gleichnamigen Oper von Richard Wagner.

So viel wechselseitige Durchdringung war wohl noch nie bei einer "Parsifal"-Inszenierung. An die 1.000 Opernenthusiasten meldeten sich nach einem Aufruf, um der Vision Padrissas als Statisten zur Bühnenwirklichkeit zu verhelfen. Jeweils etwa 100 von ihnen lagern als weiß uniformiertes Gralsritterheer in und auf einer variablen Parabolstruktur. Je nach Art einer eingespielten Videografik lässt diese sich als kollektive Menschentraube oder individuell als Gehirn, Herz des Menschen oder gar als Computerchip deuten. Mit wachsender Eindringlichkeit inszeniert Padrissa die vorgegebenen Schauplätze als megamoderne Märchen- und Zirkuswelt. Typisch für La Fura, lösen Bildtableaus mit 3-D-Effekten in immer schnellerem Tempo Raumkreationen ab, in denen zirzensische Menschenakrobatik und Multimediaobjekte eine spektakuläre Allianz eingehen.

Tod eines Rennfahrers

Video ist ein Wesensmerkmal dieses Konzepts. Schon beim Vorspiel zum ersten Aufzug wird die Intention dieses multimedialen "Regietheaters" plakatiert und zugleich sein Scheitern auf dem Niveau selbstverliebten Schwärmens von den eigenen Ausdrucksmitteln vorweggenommen. Schwarz-Weiß- Bilder vom Tod eines Rennfahrers in der Formel 1 sind mögliche, aber beliebige Assoziationen zu einem Geschehen und zu Figuren, die zu Rohmaterialien des Dekorativen denaturiert werden. Schon beim Aufscheinen des vom Gürzenich-Orchester unter Leitung von Markus Stenz inbrünstig gespielten Liebesmotivs wird so klar: Es wird in den nächsten knapp fünf Stunden wenig Raum und Ruhe geben, das Innere von Wagners Werk zu erfassen.

###mehr-links###Was in München bei der Uraufführung von Jörg Widmanns Oper "Babylon" (Libretto: Peter Sloterdijk) noch grandios gelang, nämlich einem musikalischen Werk zu einer adäquaten visuellen Sprache zu verhelfen, geht in Köln in die falsche Richtung. Die moderne Gesellschaft, sagt Padrissa, unterdrücke und leugne das Leid. "Der Anreiz zu Konsum und zu Sex ist allgegenwärtig." Eben diese Allgegenwart der Ablenkung ist aber das Kennzeichen dieser "Parsifal"-Produktion. Sie reduziert die Essenz eines ethischen Welttheaters auf einen säkularen Weltzirkus, der sich den Plot und sein Personal amüsiert zunutze macht. Ihre Bilderräusche bedienen die Wahrnehmungsgewohnheiten eines Publikums, das sich weitgehend an der Warenästhetik der Konsumgesellschaft orientiert.

Lichtgestalt mit eingenähten Strahlern

Außer Blick gerät Wagners Dimension des Transzendenten im Leben wie in der Kunst, das diese Massenkultur gerade überwinden will. Spürbar wird der Primat des Oberflächenreizes in vielen Details und manchen Schlüsselszenen. "Natürlich" erscheint Parsifal bei der Rückkehr zur Gralsburg nicht in schwarzer Waffenrüstung, sondern als Lichtgestalt mit eingenähten Strahlern in Mantel und Krone. Der als Sängerdarsteller unverwüstliche Matti Salminen (Gurnemanz) muss im dritten Aufzug einen übergroßen Backofen anheizen.

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Am Ende geht das zu Scheiben geschnittene Brot durch der Statisten und dann des Publikums Hände. Ein Abendmahl auf dem kleinsten gemeinsamen, also banalen Nenner? Kundry schließlich – Erlösung nun auch der Erlösten – darf in Gestalt eines Doubles im Nixenkostüm unter den lüsternen Augen der Entourage im Gral schwimmen und tauchen, der jetzt nicht mit dem Blute des Heilands, sondern mit gewärmtem Wasser gefüllt ist. "Viel Spaß!" wünschten sich junge Leute in den Pausen der Aufführung. Eine treffliche Anspielung. Doch welch eine Vergeudung im Wagnerjahr 2013, wenn auch vom Feinsten.