Ein unvergessliches Erlebnis: Prozession in der 'semana santa' in Antigua, Guatemala
Foto: Katrin Neuhaus
Ein unvergessliches Erlebnis: Prozession in der 'semana santa' in Antigua, Guatemala
Gott auf der Straße
Die Karwoche in Antigua, Guatemala
Sie dauern bis zu 12 Stunden, oft vom Abend des Gründonnerstag bis um 6 Uhr morgens am Karfreitag. Beteiligt sind gut und gerne 1000 Menschen, Träger, Kostümierte, Musiker. Ganz zu schweigen von den Massen, die die Straßen säumen. Die Rede ist von den außergewöhnlichen Prozessionen, bei denen die Menschen in Guatemala in der Karwoche, der 'semana santa', ihren Glauben durch die Straßen tragen. Pfarrer Markus Böttcher ist Auslandspfarrer der Evangelischen Kirche in Deutschland in Guatemala. Er hat eine solche Prozession im Zentrum von Antigua miterlebt und berichtet darüber in seinem Gastbeitrag.

30.03.2013
Markus Böttcher

Wer Guatemala besucht, fährt zuerst nach Antigua, der alten Hauptstadt. Hier findet er das koloniale Guatemala. Hier ist die schöne Altstadt, die der Hauptstadt Guatemala-Stadt fehlt. Hier schwillt die Einwohnerzahl in der Karwoche auf das Dreifache an. Parkplätze findet man nur noch weit außerhalb der Stadt. Denn in dieser heiligen Woche, der 'semana santa' ereignet sich in den holprigen Straßen der kleinen Stadt etwas Ungewohntes, etwas Geheimnisvolles und Schönes. Tausende Einwohner der Stadt sind in orientalischer KIeidung und mit ernsthafter Miene auf den Straßen der Stadt unterwegs: Es ist ein Passionsspiel der Straße.

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Mit meiner Familie beziehe ich am Gründonnerstag ein Zimmer in der Casa de Santa Lucía, dessen Balkon auf die sechste Avenida hinausragt. Héctor, der mir den Zimmerschlüssel gibt, versichert mir, hier kämen die meisten Prozessionen lang. Auf der Straße unter unserem Zimmer ist ein Menschenauflauf. Vom Balkon aus sehen wir, wie vier Männer sich mit gefärbtem Sägemehl auf der Straße zu schaffen machen. Auf dem Weg zum Hotel hatten Teppiche aus Blumen oder Sägemehl gesehen. Jeder Hausbesitzer macht seinen eigenen vorm Haus. Lange Piniennadeln, Blumen, Palmenzweige werden zu Kunstwerken arrangiert. Ein Jammer: diese Teppiche werden die Nacht nicht überleben.

Stundenlange Arbeit am Teppich aus Sägemehl

Und nun Sägemehl unter unserem Balkon. Frauen, Männer und Kinder schauen zu. Die Vier balancieren auf Brettern, die auf je zwei Ziegeln ruhen, über die Straße, legen Schablonen auf das Bett aus Sägemehl, schütten farbige Sägespäne in ein Sieb, verteilen die Späne, nehmen die Schablonen wieder ab. So entsteht Schritt für Schritt, Schablone für Schablone, ein Bild. Eine Friedenstaube, zwei Hände, die einander umfassen, Wörter wie 'paz' und 'espirito santo' werden sichtbar. Die Fertigstellung des Teppichs dauert Stunden.

Nachts werden wir von trauriger Blasmusik geweckt. Die sonst dunkle Straße ist hell. Wir schlafen im zweiten Stock, aber plötzlich erscheint eine lebensgroße Christusfigur direkt vor unserem Fenster. Wir reißen die Balkontür auf. Tausende stehen in der engen Straße. Christus steht auf einem riesigen Tisch, der 'Anda', die ganz langsam vorangetragen wird. Die Musik, die vielen Menschen, die Figur auf der Anda – irgendwie zieht es mir das Herz zusammen.

Es ist, als hätten all diese Leute ein Bewusstsein von der Ewigkeit

Und der Teppich? Die Anda, getragen von vielleicht 80 Leuten, zieht langsam wiegend vorbei. Dann kommt die Blaskapelle mit einer leicht verbeulten Tuba. Zwei Männer ziehen ein Gestell mit zwei Pauken. Dahinter das schwerste und lauteste 'Instrument', das der Musik einen störenden Unterton gibt, ein Generator auf Rädern für die Lampen rund um den Prozessionstisch, von zwei ächzenden Männern gezogen. Der Teppich ist zu Staub zerfallen.

Nach dem Christus kommt die Musik

Woher nehmen Menschen die Motivation, einen kunstvollen Teppich zu legen, der keine fünf Stunden überlebt? Es ist, als hätten all diese Leute in orientalischen Kostümen, die Musiker, die Teppichleger, die Träger – und natürlich auch Trägerinnen, bei der nachfolgenden Frauenprozession – als hätten all jene ein Bewusstsein von der Ewigkeit. Von einer Uhr, die anders tickt als die Uhren sonst in Antigua. Als wüssten sie, dass sie für die Ewigkeit unterwegs sind, die hier nur kurz im wiegenden Schritt der Träger und in der traurig-schönen Musik der Kapelle zu spüren und im Weihrauch, der die Prozession einhüllt, zu atmen ist.

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Den Zug beschließt ein Reinigungskommando, acht Männer mit Besen und Schaufeln, ein Müllwagen und ein kleiner Bagger, der das Sägemehl – oder woanders die Blumen und Piniennadeln – aufnimmt und in den Müllwagen hebt. Diese Männer scheinen mir genauso feierlich bei der Sache zu sein wie die Träger in ihren Kostümen.

Hier tragen Menschen ihren Glauben durch die Straßen. Man mag an der Ernsthaftigkeit Einzelner zweifeln, an den gewaltigen Bildern, die die große Erzählung von der Passion in Szene setzen, zweifelt man nicht. Es ist ein heiliges Theater. Von seiner Wucht vielleicht am ehesten mit den Passionsspielen in Oberammergau zu vergleichen. Bescheidener will ich es nicht sagen: Hier ist Gott unterwegs.