Erste Szenen hat die Gruppe bei einem Auftritt im Berliner Abgeordnetenhaus im Rahmen des Jugendforums denkmal2013 im Januar vorgestellt. In dem Stück (damals noch eine szenische Collage) kommen ausschließlich Originalzitate aus Zeitungsartikeln, Plenarprotokollen und der Fachliteratur vor, eine Bloßstellung, die im Abgeordnetenhaus für Ärger sorgte. Auch im Internet veröffentlichte Videos bekommt das Publikum zu sehen. Beispielsweise wie Jonny Buchardt, der Onkel von Ben und Meret Becker, 1973 beim Kölner Karneval das Publikum einheizt. Auf "Zickezacke" rufen alle "Hoihoihoi", auf sein "Hiphip" rufen alle "Hurra" und auf "Sieg" "Heil".
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Dass ähnliche Gruppenphänomene noch heute funktionieren, hat auch Projektleiterin Judith Rahner beobachtet: "Wenn unsere Jugendlichen auf der Bühne ein indiziertes Lied chorisch sprechen, rufen einige Zuschauer die wiederholten Sätze mit." Ein Effekt, den die reißerische Musik bewusst provozieren soll: "Die Zuschauer sollen ruhig am eigenen Leibe erfahren, wie es ist, ein Mitläufer zu sein", betont die Projektleiterin.
Seit dieser viertelstündigen Präsentation hat sich viel an dem Stück geändert und es soll sich auch weiterhin den aktuellen Anlässen anpassen. Die Regisseurin des Stücks Marina Schubarth versteht ihre Inszenierung dementsprechend nicht als statisches Werk, sondern als lebendiges Theaterstück: "Wir hoffen deswegen auch auf weitere Förderung, damit sich das Projekt immer weiterentwickeln kann." Die Abteilung Jugend, Familie, Schule, Sport und Umwelt des Berliner Bezirksamts Charlottenburg-Wilmersdorf finanzierte die Anfänge des Theaterprojekts "Akte/NSU".
"Das hätte auch mein Vater sein können"
Vor allem für die Jugendlichen ist es sehr wichtig, dass das Stück weiter entwickelt wird. "Als im November 2011 der NSU-Skandal aufflog, waren viele unserer Jugendlichen verunsichert. Sie sagten Sätze wie: 'Das hätte auch mein Vater sein können'", erinnert sich Rahner. "Seit September vergangenen Jahres arbeiten wir den Skandal kulturell auf." Unter den 40 Mitgliedern der Gruppe sind nur 20 bis 25 Darsteller, erzählt sie weiter. Viele kümmern sich um die Technik und um die Recherche. In diesem Zusammenhang ist die Regisseurin des dokumentartheaters berlin Marina Schubarth auch mit den Jugendlichen ins Konzentrationslager Ravensbrück gefahren.
Eine Erfahrung, die die 15-jährige Sena besonders geprägt hat. Sie spielt in dem Stück eines der Opfer und hat als junge Muslima selbst Diskriminierung erfahren: "Das ist eigentlich nicht so gut für mich, jetzt auch in dem Stück angepöbelt zu werden. Aber ich will die Zuschauer dazu bringen, zu helfen, wenn etwas passiert." Die Rollen sollen jedoch nicht entlang irgendwelcher ethnischer Zuschreibungen besetzt werden. Andere junge Darstellerinnen mit türkischen Familienbezügen hätten sich dagegen gewehrt, immer das Opfer spielen zu müssen, erzählt Rahner: "Und deswegen spielte in einer Projektpräsentation eine von ihnen Angela Merkel und auch einen der Neonazis."
"Die von der Terrorzelle haben ja ein regelrechtes Doppelleben geführt"
Die jüngste im Ensemble Samantha (13) spielt eine Rechtsradikale, was bei ihr zu einem regelrechten Aha-Effekt führte: "Ich hätte nie gedacht, dass Menschen so eiskalt sein können. Die von der Terrorzelle haben ja ein regelrechtes Doppelleben geführt." Als professioneller Schauspieler des dokumentartheaters berlin sieht Sebastian Stegmann seine Rolle des Uwe Mundlos’ etwas distanzierter: "Auch der ist ein Mensch. Mich interessiert an der Rolle, wie es dazu kam, dass er sich der rechtsradikalen Szene anschloss."
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Projektleiterin Judith Rahner vermutet, dass die Kultur des Wegschauens und Verharmlosens dabei eine große Rolle spielte: "Als 1992 die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen brannte, hat sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nicht dazu geäußert, sich nie dagegen ausgesprochen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass zu dieser Zeit auch die Zwickauer Terrorzelle entstand. Auf jeden Fall war das mangelnde Aufbegehren Futter für die rechte Szene. Zum Glück ist das heute anders."
Der Brand in Rostock-Lichtenhagen ist auch eine Szene in "Akte/NSU". Ein Mitschnitt eines Notrufes, bei dem sich die Feuerwehr eher zurückhaltend zeigt, eine weinende Frau, die helfen wollte, aber nicht konnte und dazwischen einzelne Strophen aus der "Vogelhochzeit".
Ein Mittel, dass nicht nur im Kontrast zu der grausamen Szene steht, wie die Regisseurin den Darstellern erklärt: "Auf diese Melodie gibt es auch eine antisemitische Parodie."
Vier Mal in der Woche trifft sich die Regisseurin mit den Darstellern, bespricht deren Rollen und probt einzelne Szenen. Das Ergebnis ist am Freitag, 12. April, um 19 Uhr im Gemeinde- und Gedenkzentrum Plötzensee am Heckerdamm 226 in Berlin Charlottenburg-Nord zu sehen.