Frau Schlemmer, was kann die Kirche nach so einem schrecklichen Ereignis tun, um den Menschen zu helfen?
Ruth-Elisabeth Schlemmer: Wir haben zwei Dinge, die wir anbieten können: Unsere Räume und unsere Worte. Die Räume, unsere Kirchen, die immer da sind, die immer bereit sind, die wir aufschließen können, und die auch besondere Räume sind, weil sie mittragen. Da wird ja gefeiert, da wird geheiratet und getauft, da steht der Sarg - und alles das macht diesen Raum 'besonders' und hilft auch Menschen, die nicht selber zu Gott sprechen können. Wenn wir diese Räume aufschließen können, dann ist das, so glaube ich, etwas, das viele Menschen brauchen. Auch jetzt noch. Die Andreaskirche ist ja in besonderer Weise verbunden, weil sie die Kirche ist, die dem Gymnasium am nächsten lag. Ich bin ja damals sehr nah dran gewesen - ein bisschen durch Zufall oder wie ich jetzt sagen würde: Weil Gott es so wollte. Die Andreaskirche ist von Ostern bis zum Reformationstag täglich geöffnet. Aber andere Kirchen betrifft das natürlich auch.
Es gab eine Diskussion, ob man in der Kirche 16 Kerzen aufstellt - für die Opfer - oder auch eine siebzehnte für den Täter. Wird darüber immer noch diskutiert?
Schlemmer: Ja und nein. Am Anfang haben wir in unseren Andachten, die wir hier jedes Jahr halten, 16 plus eine Kerze angezündet. Gerade in den ersten Jahren haben wir uns ja noch als größere Gruppe versammelt und das vorbereitet: Da waren Angehörige dabei, Konfirmanden, Jugendliche, Schüler - also auch Menschen, die ganz hoch betroffen waren in den ersten Jahren. Da haben wir mühsam miteinander gerungen, welchen Kompromiss wir finden zwischen der einen Seite, die sagt: "Ich möchte das nicht, ich kann das nicht ertragen", und das ist auch in Ordnung. Das muss man auch so sagen dürfen. Und der anderen Seite, die ich jetzt als Pfarrerin vertrete: Ich kann und muss diese Kerze anzünden vor Gott. Weil der Täter auch ein Mensch vor Gott ist. Und ich kann sie anzünden, weil ich im denke: "Gott ist der Rächer." Diese Kerze anzuzünden fällt mir natürlich leichter als einzelnen Angehörigen.
Kann man sagen: Sie geben es ab an Gott?
Schlemmer: Ja. Ich gebe die Traurigkeit um einen Menschen ab, dem wir nicht helfen konnten und der sich nicht helfen lassen wollte - das muss man auch klar sagen. Er trägt ja wirklich Schuld. Aber ich weiß auch, dass wir unter Menschen diese Schuld nie sühnen können. Nicht nur, weil er nicht mehr lebt, sondern auch weil das kein Mensch sühnen kann. Und da gebe ich in meinem Glauben an Gott ab und sage: "Du Gott, ich hoffe, du hast ihm gehörig den Kopf gewaschen - und dann die Arme aufgemacht!"
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Ich weiß, dass immer noch Menschen damit auch Schwierigkeiten haben, und es gibt auch Angehörige, die deshalb nicht zu der Andacht kommen können, weil sie wissen, dass diese Kerze brennt. Das gestehe ich jedem auch zu, und ich weiß auch nicht, wie es mir ginge, wenn ich selbst einen Menschen verloren hätte. So gibt es halt zwei Seiten so einer Wahrheit. In der Andacht, die wir um 18 Uhr halten, stehen die Angehörigen im Mittelpunkt. Wir nennen dort die Namen der Getöteten, aber den Namen des Täters nicht. Ich selbst kann ihn aussprechen inzwischen - aber in der Andacht tun wir das nicht. Und wir trennen auch die Kerzen: 16 Opferkerzen sind etwas Besonderes. An einer anderen Stelle zünde ich im Talar die einzelne Kerze an - auch um deutlich zu sagen: Es ist etwas ganz anderes.
Wenn Sie mit den Menschen sprechen, jetzt, zehn Jahre danach: Welche Gedanken begegnen Ihnen?
Schlemmer: Das ist ganz unterschiedlich, weil wir alle anders trauern und anders erinnern. Es gibt diejenigen, die für sich in den zehn Jahren ein Leben gefunden haben, auch unter den Angehörigen. Die sagen können: "Ich kann wieder leben und es geht mir gut." Für sie ist die Andacht am Jahrestag - da geht es uns allen nicht gut - eine Verbindung, ein gemeinsames Drandenken. Wir erinnern uns, wie es damals war, damit wir nicht vergessen. Und dann gibt es die anderen, die es heute noch ganz schwer haben, überhaupt zu leben. In den Gesprächen mit ihnen kann ich nur zuhören, nur mittragen.
Außerdem gibt es noch die vielen, die drumherum in irgendeiner Weise getroffen waren, wie wir ja alle betroffen sind, weil es um Schule geht, weil es um Gesellschaft geht, und weil es weiter gegangen ist. Das ist ja auch das Furchtbare. Es ist weiter geschossen worden an Schulen. Danach auch. Und uns treibt natürlich die Frage um: Wie kommt das? Ist das eine neue Form von Gewalt, eine neue Form von Konfliktlösung? Das ist etwas, was uns Angst macht. Es bleiben die Fragen - die von damals von heute und von vor zehn Jahren - nach Schule, nach dem Umgang miteinander, nach Waffengesetzen.
Wie hat das Geschehene Ihre Arbeit als Pastorin und Sie persönlich verändert?
Pastorin Ruth-Elisabeth Schlemmer. Foto: Thüringische Landeszeitung
Schlemmer: Es gibt eine Sache, die in mir damals kaputt gegangen ist. Und zwar ist es das Vertrauen, dass bei uns so etwas nicht passiert. Dieses Gefühl, das passiert nur weit weg oder nur in Amerika, dieses Vertrauen haben wir alle nicht mehr. Es gibt immer noch Situationen, in denen ich auch Angst habe, insofern hat es mich ganz persönlich verändert. Als Pfarrerin habe ich vor zehn Jahren etwas erlebt, was ich auch als Schatz bewahre: Dieses Gefühl, von Gott getragen zu sein und das alles zu schaffen. Jeden Tag den Schritt zu gehen, der dran ist. Das ist eine große und gute Erfahrung für mich gewesen.
Und es gibt ein Thema, das uns immer betrifft als Seelsorgerinnen, als Pfarrer, als diejenigen, die im Konfirmandenunterricht oder in den Glaubenskursen mit suchenden Menschen zu tun haben: Die Frage: "Warum geschieht Leid? Warum geschieht mir Leid? Wie steht Gott dazu?" Da merke ich, dass das für mich ganz wichtig geworden ist, das nie auszulassen. Ich spreche mit Konfirmanden darüber oder in den Runden mit Taufbewerbern. Dieses Thema spielt für mich seitdem eine noch größere Rolle.