Aruna Shanbaug wurde in einem Krankenhaus von dem Putzmann Sohanlal Bhartha Walmiki mit einem Hundehalsband gewürgt, vergewaltigt und anschließend bewusstlos zurückgelassen. Das war 1973. Seitdem liegt die Krankenschwester im Koma. Gut 40 Jahre und viele zehntausende Vergewaltigungen später wird am 16. Dezember 2012 Jyoti Singh Pandey in einem Bus in Neu Delhi eine Stunde lang von fünf Männern vergewaltigt und mit Eisenstangen verprügelt. Dann werfen die Männer die Medizinstudentin blutend auf die Straße. Vierzehn Tage später stirbt die 23 Jahre alte Frau in einem Krankenhaus in Singapur, in das sie zur Behandlung ihrer Verletzungen gebracht worden war.
Beide Fälle haben Indien schwer schockiert. Nach beiden Fällen wurden Rufe nach mehr Schutz für Frauen, dem Ende der Diskriminierung von Frauen, härteren Strafen für Sexualstraftäter im Allgemeinen und Vergewaltiger im Besonderen laut. Passiert ist nichts. Weder damals noch heute. Frauen im Land mächtiger Geschlechtsgenossinnen wie Sonja Ghandi oder ihrer ermordeten Schwiegermutter Indira Ghandi sind schutzlos einer patriarchalischen Gesellschaft ausgeliefert. Gesetze zur Garantie von Frauenrechten existieren nur auf dem Papier. Die Polizei ignoriert gewöhnlich Frauen, die sexuelle Gewalt anzeigen und wenn überhaupt Ermittlungen aufgenommen werden, verlaufen sie schnell im Sande.
Frauen werden in Indien systematisch unterdrückt, gelten als Freiwild für Männer. Laut einer im Sommer 2012 von der Thomson Reuters Stiftung veröffentlichten Studie ist Indien das frauenfeindlichste Land unter den große Wirtschaftsnationen, schlimmer noch als Saudi-Arabien. Alleine seit 2011 wurden fast 100.000 Vergewaltigungen angezeigt. Jedes Jahr werden Tausende junge Frauen ermordet - oft durch Verbrennungen - weil sie zuwenig Mitgift in die Ehe gebracht haben. Die Abtreibung weiblicher Föten, obwohl illegal, ist ein großes Geschäft. Nicht selten werden neugeborene Mädchen kaltblütig umgebracht. Jungs zählen eben mehr als Mädchen. Für Valerie M. Hudson, Ko-Autorin des Buches "Bare Branches: The Security Implications of Asia’s Surplus Male Population", (Übersetzt: Die Auswirkungen von Asiens Männerüberschuss auf die Sicherheit) ist der immer größer werdende Männerüberschuss Indiens ein wesentlicher Grund für die zunehmende sexuelle Gewalt gegen Frauen.
Das Schweigen der Religionen
Indien ist das Geburtsland vieler großer Religionen. Der Buddhismus, der Hinduismus, der Sikhismus, Jainismus haben ihren Ursprung auf dem Subkontinent. Über die frühere portugiesische Kolonie Goa kam das Christentum nach Asien. Selbst eine jüdische Minderheit lebt in Indien. Der Stamm der Bnei Menashe führt seinen Ursprung auf einen der verlorenen Stämme der Israeliten zurück. Nach der Gruppenvergewaltigung der Studentin äußerten zwar einige Bischöfe und Priester aller christlichen Konfessionen in ihren Weihnachts- und Neujahrspredigten Entsetzen über die Vergewaltigung von Pandey. Die Ursachen für die Gewalt gegen Frauen wurden jedoch kaum angesprochen.
"Die Kirche in Indien, und besonders die katholische Kirche, hat sich in der gegenwärtigen nationalen Debatte über geschlechtsbezogene Gewalt unsichtbar gemacht", klagt John Dayal, Generalsekretär des ökumenischen All India Christian Council, in seinem im Januar veröffentlichten Kommentar "Eine schweigende Kirche ist eine tote Kirche". Weiter warnt Dayal, durch das Schweigen überlasse sie das Feld "autoritären Stimmen, die Rache mit Gerechtigkeit verwechseln".
Vergewaltigungsverbot könnte "Institution der Ehe" schwächen
Das weitgehende Schweigen der Kirchen wundert Jyotsna Chatterjee nicht. Die Direktorin der Frauenrechtsorganisation Joint Women's Programme weiß, dass die Unterdrückung der indischen Frauen unabhängig von Kastenzugehörigkeit und Religionen ist. "Die patriarchalische Einstellung herrscht ungebrochen", sagt die 73 Jahre alte Literaturprofessorin, protestantische Christin und prominente Frauenrechtlerin. Über ihre eigene Religion sagt Chatterjee: "Das Christentum ist so, wie es praktiziert wird, eine patriarchalische Religion. Folglich folgt die Mehrheit der in Indien existierenden patriarchalischen Praxis."
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Um so lauter melden sich hingegen konservative Flügel der Religionen zu Wort. Der populäre indische Guru Asaram Bapu wies der vergewaltigten Studentin eine Mitschuld zu. Sie hätte die Täter "Brüder" nennen und sie "bitten" sollen, mit der Vergewaltigung aufzuhören, sagte Asaram Bapu und fügte hinzu: "Das hätte ihre Würde und ihr Leben retten können." Fundamentalistische Hindu- und Muslimgruppen fordern strenge Bekleidungsvorschriften, nächtliche Ausgangssperren oder auch die Bewaffnung von Frauen. Nur von Gleichberechtigung sprechen sie nicht.
Die Vergewaltiger von Pandey stehen inzwischen in Neu Delhi vor Gericht. Die Fünf Männer sollen in einem Schnellverfahren abgeurteilt werden, die die indische Regierung nach dem Tod von Pandey eingeführt hat. Ansonsten hat der zunächst zur Schau gestellte Eifer der Politiker, wirksamere Gesetze gegen Vergewaltigungen und für den Schutz von Frauen zu erlassen, merklich nachgelassen. So lehnte es Indiens Regierung erst vor kurzem ab, auch Vergewaltigungen in der Ehe unter Strafe zu stellen. Grund: das könnte die "Institution der Ehe schwächen" und stehe überhaupt gegen die "traditionellen Familienwerte".
Khum Kheun und Plam
Vergewaltigungen gelten auch in anderen asiatischen Ländern als Kavaliersdelikt oder als "Familienschande" – für die Familien der Opfer. Thailands Tourismusminister Chumphol Silpa-archa verstand im Herbst vergangenen Jahres die weltweite Aufregung über die Vergewaltigung einer holländischen Touristin durch einen thailändischen Bekannten der Frau im Badeort Krabi nicht. Es könne sich gar nicht um eine "khom kheun", eine Vergewaltigung, handeln, weil die beiden doch vor der Tat zusammen zu Abend gegessen hätten.
"Khom kheun" ist auch in Thailand geächtet und strafbar. Nimmt sich aber ein Mann eine Frau, mit der er gesellschaftlich verkehrt, ist das "plam", was soviel heißt wie: wenn sie sich schon mit einem Kerl einlässt, dann will sie auch was von ihm. In Indonesien sorgte Mitte Januar M. Daming Sanusi bei einer parlamentarischen Anhörung der Bewerber für einen Richterposten am Obersten Gericht mit einer skandalösen Aussage für Wirbel. "Sowohl der Vergewaltiger als auch das Opfer genießen es. Deshalb sollte man über die Todesstrafe nochmals nachdenken", hatte Sanusi auf die Frage nach seiner Position zu der Forderung nach Einführung der Todesstrafe für Vergewaltiger gesagt.
Eltern in Bangladesch versteckten aus Angst vor der "Schande" mehrere Wochen lang ihre über Tage von mehreren Männern vergewaltigte 11-jährige Tochter. "Als für Bangladesch typische Eltern sind sie davon überzeugt, dass niemand eine Frau heiratet, die auf diese Weise defloriert wurde", schreibt ein Journalist aus Bangladesch unter seinem Bloggerpseudonym The Third Eye, und fügt hinzu: "Das mag in westlichen Ohren erstaunlich klingen, aber in Ländern wie Indien oder Bangladesch mit ihren mittelalterlichen und männerdominierten gesellschaftlichen Systemen stehen sowohl Behörden als auch die Gesellschaft Vergewaltigungen mit Apathie gegenüber."
Unheilige vereinte Kräfte
Unterdessen sind in Indien Frauen und Mädchen weiterhin Freiwild. In Gurgaon wurde ein sechsjähriges Mädchen entführt, mehrfach vergewaltigt und dann blutend auf die Straße geworfen. In Neu Delhi wurde ein zweijähriges Mädchen vergewaltigt und ein dreijähriger Junge zum Analverkehr gezwungen. Drei zwischen sechs und elf Jahre alten Schwestern wurden in einem Dorf in der Nähe der indischen Stadt Nagpur vergewaltigt und ermordet. In Chhattisgarh ist ein katholischer Priester wegen des Vorwurfs der mehrfachen Vergewaltigung in Untersuchungshaft. Das sind nur die Fälle, die alleine in den letzten beiden Februarwochen Schlagzeilen machten.
Für Virginia Saldhana ist die Unterdrückung, die Diskriminierung, die Ausbeutung von Frauen in Indien Ausdruck der "hierarchischen Strukturen" der indischen Gesellschaft. "Sie werden von den vereinten Kräften des Patriarchats, der Armut, der Religion, der Tradition, der Kultur, dem Fehlen von Informationen und Bildung, wirtschaftlicher Machtlosigkeit, der Nichtumsetzung von Gesetzen unter Kontrolle gehalten", klagt die Frauenrechtlerin und Koordinatorin des Theologinnennetzwerks "Ecclesia of Women in Asia". Hoffnung darauf, dass die Politik dieses Gefüge auflöst, hegt die 65 Jahre alte Frau aus Bombay nicht. "Im nächsten Jahr sind Wahlen. Da werden die Politiker keine Reformen wagen, die die bestehenden Machtstrukturen antasten."
Bollywoodstar streitet für Gleichberechtigung
Die Filme aus der indischen Traumfabrik Bollywood zementieren gewöhnlich mit Geschichten über strahlende männliche Helden, zu denen schöne Frauen aufschauen, die traditionelle Rollenverteilung. Bollywoodsuperstar Amir Khan streitet jedoch seit langem in seinen Filmen und neuerdings als Gastgeber einer der populärsten TV-Talkshows für die Gleichberechtigung der Geschlechter. "Wir müssen die patriarchale Geisteshaltung ändern", sagte Khan jüngst der Times of India, als er zusammen mit Großbritanniens Premierminister David Cameron eine Mädchenschule in Neu Delhi besuchte. Khan ist sich bewusst, dass der Kampf gegen das Patriarchat schwer und schwerfällig ist. "Das ist ein schrittweiser Prozess. Man muss die Menschen durch Medien aller Art gewinnen - Filme, Kultur und Kunst.“