Unter dem Titel "Why is Tibet burning?" präsentierte der tibetische Exilpremierminister Lobsang Sangay Anfang Februar in Neu Delhi ein Weißbuch über die Selbstverbrennungen, die politische Repression und die Unterdrückung der Religionsfreiheit in Tibet. Den Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte der erst 35 Jahre alte Harvard-Jurist mit Bedacht gewählt: Am 14. Februar jährte sich zum einhundertsten Mal der Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung Tibets.
Auf 91 Seiten dokumentiert das von dem Tibet Policy Institute (TCI) – dem Think Tank der tibetischen Exilregierung – verfassten Weißbuch die chinesische Tibetpolitik der "kulturellen Assimilation" sowie die "Zerstörung des tibetischen Buddhismus". Der Report versteht sich als Erklärung, wenn nicht gar Rechtfertigung, der Selbstverbrennungen. Die "gegenwärtige, kritische Situation" werde von "Chinas totaler Missachtung der religiösen Überzeugungen, kulturellen Werte sowie der verständlichen politischen Ziele des tibetischen Volkes angeheizt", sagte Sangay.
China kann die Massenproteste nicht verhindern
Nach der Tibet-Invasion der Armee der chinesischen Qing Dynastie 1909 floh der 13. Dalai Lama nach Indien. Zwei Jahre später endete mit der chinesischen Revolution das Kaisertum in China und der Dalai Lama kehrte in den Potala-Palast der tibetischen Hauptstadt Lhasa zurück. Nach Vertreibung der letzten chinesischen Truppen proklamierte der Dalai Lama am 14. Februar 1913 die staatliche Unabhängigkeit Tibets. Er versäumte es allerdings, die Unabhängigkeit international anerkennen zu lassen und abzusichern. Dieser Fehler begünstigt die Position Chinas, nach der Tibet "immer" zum Reich der Mitte gehörte.
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Nach der Gründung der kommunistischen Volksrepublik China annektierten chinesischen Truppen Tibet wieder und schlugen 1959 gewaltsam den Tibetaufstand nieder. Der damals noch junge Mönch Tentzin Gyatsho als 14. Dalai Lama und mit ihm die politische Führung Tibets floh ins Exil nach Dharamsala in Indien.
Die bisher 100 Selbstverbrennungen in Tibet machen zweierlei deutlich: erstens die Verzweiflung der Tibeter. Zweitens die Ohnmacht Chinas, das weder durch die Verstärkung seiner Truppen in Tibet noch die Verschärfung der Repression sowie die Sperrung weiter Teile Tibets für Ausländer und Journalisten bislang die Selbstverbrennungen und Massenproteste verhindern konnte. Politisch verstärkt die Regierung in Beijing ihre Propaganda gegen den Dalai Lama. Der frisch gekürte neue Regierungschef der Autonomen Region Tibet, Losang Jamcan, kündigte gleich nach seiner Wahl Ende Januar einen "resoluten Kampf" gegen die "Clique des 14. Dalai Lama" an.
Die Kommunisten wollen die buddhistische Führung kontrollieren
Die aktuelle Situation in Tibet ist vor allem geprägt von dem Kampf Beijings um die Macht über den tibetischen Buddhismus nach dem Tod des heute 77 Jahre alten Dalai Lamas. Ende Januar betraute China den erst 16 Jahre alten 7. Reting Rinpoche mit einer ersten politischen Funktion. Der junge Mann mit dem bürgerlichen Namen Sonam Phuntsok dankte mit dem Versprechen zur "Bewahrung des Patriotismus", verstanden im chinesischen Sinn. Der Reting Rinpoche ist eine der Schlüsselfiguren im tibetischen Buddhismus: Er spielt bei der Suche nach einem wiedergeborenen Nachfolger der Dalai Lamas, den geistlichen und weltlichen Oberhäuptern Tibets, eine zentrale Rolle. Mit Hilfe des Jahr 2000 von den chinesischen Kommunisten "entdeckten" 7. Reting Rinpoche erhofft sich China langfristig die Kontrolle über die Klöster und Mönche Tibets.
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Spurlos verschwunden ist hingegen der Pantschen Lama. 1995 verkündete der Dalai Lama die Wiedergeburt des zweithöchsten buddhistischen Würdenträgers Tibets in der Gestalt eines damals sechs Jahre alten Jungen. Seitdem ward der Knabe samt seiner Familie nicht mehr gesehen. Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass der Pantschen Lama im Auftrag der chinesischen Führung entführt wurde und seit mehr als 17 Jahren an einem geheimen Ort gefangen gehalten wird.
Aber auch der Dalai Lama ist ein Meister des politischen Spiels. Im Sommer 2011 überraschte der Friedensnobelpreisträger die chinesische Führung als auch die Tibeter mit einem historisch beispiellosen Schachzug: Er gab seine Funktion als weltlicher Regierungschef der Tibeter auf. Gleichzeitig stellte der charismatische Mönch die Weichen für seinen religiösen Nachfolger. Um nach seinem Tod "keinen Raum für Zweifel oder Betrug" zu erlauben, kündigte der Dalai Lama an, Richtlinien über seine Reinkarnation zu erlassen. Mit anderen Worten: Der Dalai Lama will noch zu Lebzeiten seinen Nachfolger als religiöses Oberhaupt der Tibeter küren.
Niemand will sich mit China überwerfen
Die 100 Selbstverbrennungen zeigen aber auch deutlich, wie alleine die Tibeter in ihrem Widerstand stehen. Löste in Tunesien eine einzige Selbstverbrennung den zunächst weltweit bejubelten Arabischen Frühling aus, herrscht China in Tibet auch nach einhundert Selbstverbrennungen mit eiserner Hand. Die Stellungnahmen von Regierungen und Institutionen wie den Vereinten Nationen fallen verhalten aus. Niemand will es sich mit der Wirtschaftsmacht China verderben. Länder, deren Staats- und Regierungschefs trotz chinesischen Drucks den Dalai Lama empfangen, bekommen den Zorn des chinesischen Drachens zu spüren.
Auch Phuntsog war ein Mönch im Kloster Kirti. Am 16. März 2011 setzte der 21 Jahre alte Mann mit seiner Selbstverbrennung die Serie der Selbstverbrennungen in Tibet in Gang. Klosterbrüder, Familie und Freunde des buddhistischen Geistlichen wurden die ersten, die mit voller Wucht die wütende Reaktion der chinesischen Behörden auf die Selbstverbrennungen zu spüren bekamen. Sechs Mönche, darunter ein Onkel und ein Bruder von Phuntsog, wurden wegen "Verschwörung" zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Dorjee, den erst 16 Jahre alten besten Freund Phuntsogs, schickten die chinesischen Machthaber für drei Jahre in ein "Umerziehungslager".
Die Freunde von Phuntsog hatten damals noch Glück im Unglück. Seit diesem Jahr werden Angehörige und Unterstützer von Selbstverbrennungstätern wegen Mordes vor Gericht gestellt.