Der weltweite Erfolg seiner Streitschrift "Empört Euch!" hat ihn komplett überrascht. "Das erklärt sich wohl durch die historischen Umstände", sagte Stéphane Hessel später in einem Interview. "Die Gesellschaft fühlt sich verloren, sie sucht nach einem Sinn des menschlichen Abenteuers", fügte er hinzu.
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Der weise alte Mann mit dem Esprit eines jungen Rebellen hatte 2010 den Nerv der Zeit getroffen. Ist es sinnvoll, sich zu engagieren? Ja, unbedingt, so lautete die Antwort des Franzosen, der plötzlich zur Galionsfigur einer empörten Generation geworden war. Stéphane Hessel ist in der Nacht zu Mittwoch im Alter von 95 Jahren in Paris gestorben.
Seine Stimme war in der französischen Öffentlichkeit unüberhörbar in den vergangenen Jahren - und sie hatte schon auf Grund seiner bewegten Biografie Gewicht. Der in Deutschland geborene Hessel hatte den Nazi-Terror am eigenen Leib erfahren und sich sein ganzes Leben lang für die Verteidigung der menschlichen Würde und der Menschenrechte eingesetzt.
1917 in Berlin geboren
Hessel kommt 1917, mitten während des Ersten Weltkriegs, in Berlin in einer Intellektuellenfamilie auf die Welt. Sein Vater Franz stammt aus einer polnisch-jüdischen Familie und arbeitet als Übersetzer, die Mutter Helen ist Journalistin. Das Paar war mit dem französischen Schriftsteller Henri-Pierre Roché befreundet, der sich in Helen verliebte und diese Dreiecksbeziehung in seinem Roman "Jules und Jim" literarisch verarbeitete. Filmemacher François Truffaut griff die Geschichte später für seinen gleichnamigen Film auf, der zu einem Klassiker wurde.
Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, lebt Hessel bereits seit Jahren mit seiner Mutter in Paris und hat die französische Staatsangehörigkeit angenommen. Im Haus der Mutter trifft er mit zahlreichen Künstlern zusammen, unter ihnen auch Picasso, Max Ernst und Le Corbusier. Hessel schließt sich dem Widerstand gegen die deutsche Besetzung Frankreichs an und schlägt sich nach London zu General Charles de Gaulle durch. 1944 fällt er den Nazis in die Hände, wird gefoltert und nach Buchenwald deportiert.
Er lernte ein Leben lang Gedichte auswendig
Geholfen hat ihm in dieser Zeit nicht zuletzt sein lyrisches Gedächtnis: Hessel hat sein Leben lang Gedichte auswendig gelernt. Im Konzentrationslager stimmt er seine Lageraufseher gewogen, in dem er ihnen deutsche Lyrik vorträgt. Er ist schon zum Tod am Strang verurteilt, entkommt aber in letzter Minute, weil er die Identität eines gestorbenen Mithäftlings vortäuscht.
Die Erfahrungen des Kriegs machen ihn zu einem der entschlossensten Verfechter der Idee, dass die Staatengemeinschaft eng zusammenarbeiten muss, um solche Katastrophen künftig zu verhindern. Hessel wird französischer Diplomat und ist ab 1946 an der Redaktion der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt.
Saigon, New York, Genf
Seine Diplomatenkarriere führt ihn unter anderem nach Saigon, Algier, New York und Genf. Der Eintritt in den Ruhestand ist für ihn nur eine Formalie: Hessel ist noch lange nicht bereit, seine Aktivitäten einzuschränken. Immer wieder ruft ihn die Regierung als Vermittler zur Hilfe, etwa Mitte der 90er Jahre, als Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung eine Pariser Kirche besetzen. "Die Präsenz von Einwanderern aus vielen verschiedenen Ländern ist eine Bereicherung für Frankreich", betont er.
Dem breiten Publikum wird Hessel erst 2010 bekannt: Der damals 93-Jährige veröffentlicht ein rund 30 Seiten langes Büchlein mit dem Titel "Empört Euch!", in dem er sich an die Jugend wendet und sie zum gesellschaftlichen Engagement ermuntert. Es wird in Dutzende Sprachen übersetzt und verkauft sich weltweit rund vier Millionen Mal. Seine Botschaft trifft viele ins Herz: Hessel ruft zur Empörung gegen die gesellschaftlichen Zustände auf - und verbreitet zugleich einen tiefen Optimismus und eine mitreißende Zuversicht, dass die Menschen in der Lage seien, die Zustände zu verbessern.
"Lacht doch über mich"
Sein Erfolg freut ihn, doch er bleibt bescheiden. In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" 2011 zitierte er die letzten Zeilen des Gedichts "La Jolie Rousse" von Guillaume Apollinaire: "Aber lacht doch, lacht über mich, es gibt so viele Sachen, die ich euch nicht gesagt habe, so viele Sachen, die ich euch nicht sagen durfte, lacht über mich."