dpa/Stephanie Pilick
Ein Absperrband der Polizei trennt vor dem Gutenberg-Gymnasium in Erfurt Medienvertreter von Trauernden, aufgenommen am 27.04.2002.
Trauma-Expertin: Zehnter Jahrestag für Zeugen besondere Belastung
Zehn Jahre nach dem Blutbad am Erfurter Gutenberg-Gymnasium mit 17 Toten sind einzelne Zeugen des dramatischen Geschehens noch immer auf therapeutische Behandlung angewiesen. Dabei handelt es sich vor allem um diejenigen, die mit der Therapie erst nach mehreren Jahren begonnen haben.
25.04.2012
epd
Thomas Bickelhaupt

Die Trauma-Expertin Alina Wilms berichtet, diese Gruppe von Zeugen des Amoklaufs hätten das Geschehen zunächst ohne äußere Hilfe bewältigen wollen, was jedoch nicht allen gelungen sei.

Am 26. April 2002 hatte der ehemalige Gymnasiast Robert Steinhäuser an seiner früheren Schule innerhalb weniger Minuten 16 Menschen erschossen und anschließend sich selbst getötet. Wer das damalige Geschehen unmittelbar miterlebt habe, könne die schrecklichen Bilder vom ersten großen Schulmassaker in Deutschland nicht einfach vergessen, sagte die Psychotherapeutin, die vor zehn Jahren die Nachsorge bei den direkt Betroffenen und in deren persönlichem Umfeld koordinierte.

Den Teilnehmern der Therapie sei zunächst die Gewissheit vermittelt worden, dass die erlebte Situation an der Schule beendet und die akute Gefahr vorüber ist, erläuterte Wilms. Zudem wurde durch Übungen die Psyche jedes einzelnen stabilisiert, damit sie eine Kontrolle über die in ihrem Kopf gespeicherten Bilder erreichen. Die Wiederbegegnung mit der Schule sei schließlich ein weiterer Schritt gewesen, um die entstandene Angst "im Hier und Jetzt zu neutralisieren" und das schreckliche Ereignis mit innerer Distanz betrachten zu können.

"Wenn es wieder aufbricht, ist es nicht bewältigt"

Das Erlebte könne erst dann als bewältigt gelten, wenn es der Betroffene "neutralisiert" und mit angemessener Trauer sowie ohne innere Erregung, Albträume oder Schlafstörungen "als Teil seiner Biografie begreift", sagte die Psychologin. Das Verdrängen und eine fehlende Kontrolle über die eigene Erinnerung seien hingegen deutliche Anzeichen für eine noch nicht abgeschlossene Traumabewältigung. "Wenn es wieder aufbricht, dann ist es nicht komplett bewältigt."

Wilms fasste ihre Erfahrungen mit dem Erfurter Amoklauf auf knapp 300 Seiten in einer wissenschaftlichen Arbeit zusammen, um die Erkenntnisse den Therapeuten bei späteren Schulmassenmorden zugänglich zu machen. Das zunehmende Medieninteresse zum zehnten Jahrestag des Blutbades von Erfurt sei für Zeugen von damals eine zusätzliche Belastung, stellte die Therapeutin fest. "Sie werden gezwungen, sich wegen eines äußeren Anlasses mit diesem Tag zu konfrontieren."

Für den therapeutischen Erfolg sei jedoch wichtig, dass sie frei sind in ihrer Entscheidung, "wann und wie sie sich mit dem 26. April 2002 beschäftigen". Nicht zu unterschätzen ist nach Ansicht der Trauma-Expertin auch die Wirkung einer verstärkten Berichterstattung auf mögliche Nachahmungstäter. Für sie könnte Erfurt so etwas wie ein Beispiel dafür sein, "wie jemand aus selbstempfundener Bedeutungslosigkeit heraustreten und sich mit vorübergehender öffentlicher Aufmerksamkeit selbst ein Denkmal setzen kann".

Therapeutin kritisiert "Feigenblattpolitik"

Eine Bluttat wie vor zehn Jahren am Erfurter Gutenberg-Gymnasium könne trotz aller Veränderungen im Schulalltag etwa durch Schulsozialarbeit oder mehr Aufmerksamkeit für Problemschüler wohl nie sicher ausgeschlossen werden, warnte Wilms. Das Risiko lasse sich aber durch die Einrichtung etwa von schultherapeutischen Praxen "wahrscheinlich stark vermindern".

Dagegen seien "generalisierte Präventionsprogramme mit einschlägigen Titeln" häufig "eine zu kurz gedachte Feigenblattpolitik". Gerade für besonders stille, in sich gekehrte oder auffällig extrovertierte Kinder und Jugendliche seien individualisierte Selbstsicherheitstrainings durch langfristig begleitende Experten vor Ort wirksamer, fügte Wilms hinzu.