Walter Jens zählte einst zu den großen Denkern und wortgewandten Intellektuellen in Deutschland. Doch es ist leise geworden um den schwer an Demenz erkrankten Mann. Zuletzt sorgte sein Sohn Tilman vor vier Jahren für Wirbel um seinen Vater. Er veröffentlichte ein Buch, in dem er Jens für dessen spät entdeckte Mitgliedschaft in der NSDAP rügte.
Jens, am 8. März 1923 in Hamburg geboren, war ein hochkarätiger Denker und Redner, er galt vielen als moralisches intellektuelles Gewissen des 20. Jahrhunderts. Im Hörsaal erlebten ihn Studierende mit dem cicerohaft wirkenden Duktus eines Staatsmannes agierend. Die Tübinger aber sahen auch einen "ganz normalen" älteren Herren, wenn Walter Jens Mittwoch- und Samstagvormittags auf dem Wochenmarkt einkaufte, die Taschen voller Gemüse nach Hause trug, den Arm eingehakt bei seiner Ehefrau Inge.
Christ und Pazifist
In Tübingen, in der Nähe seiner "großen Toten" Schelling, Hölderlin und Hegel, war er Professor für Rhetorik. Ein Fach, das es seit 1829 in Deutschland nicht mehr gab. Wer hätte es auch so markant ausfüllen können wie Walter Jens? Seine akademischen Pflichtübungen - mit 21 Jahren Promotion, mit 26 die Habilitation - absolvierte er mit beneidenswerter Reibungslosigkeit, um sich in der Folge seiner Kür zuzuwenden.
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Der 1988 emeritierte Professor der Redekunst verstand Rhetorik nicht als "Rednerschule" im Sinne der antiken Ausbildung von Politikern, sondern als einen Versuch, "Fachfragen in Sachfragen und Sachfragen in Lebensfragen zu verwandeln, um auf diese Weise aus einem Monolog einen Dialog zu machen".
In diesen Dialog brachte er sich nicht allein mit brillanter Wortkunst ein. Als es ihm nötig schien, beteiligte er sich als Christ und Pazifist in den 1980er Jahren unter anderem an einer Sitzblockade vor dem US-Raketendepot im schwäbischen Mutlangen oder versteckte während des zweiten Golfkrieges im Jahr 1990 desertierte US-Soldaten in seinem Haus. Lange vor diesen Aktionen wurde er schon als "Radikaler im öffentlichen Dienst" und "Fortschrittsopernsänger" beschimpft oder aber als "Protagonist der kritischen Intellektuellen" und "republikanischer Redner" geachtet.
Fußball war seine Leidenschaft
Aufsehen erregte Jens auch durch seinen Roman "Der Fall Judas" im Jahr 1975, in dem er einen fiktiven Seligsprechungsprozess für Judas Ischariot beschreibt. Überhaupt schien der Rhetoriker Aufsehen oder Streit um seine Person zu genießen: So etwa bei den Querelen um seine Tübinger Ehrenbürgerschaft Anfang der 90er Jahre, in denen Tübinger Kommunalpolitiker um eine Bürgermedaille für ihn und seine Ehefrau Inge Jens stritten. Damals bekannte Jens: "Das gefällt mir gut" und "wie immer sie abstimmen, wir werden zufrieden sein".
Auch an die heutige Predigt legte Jens sein Maß an. "Markt der Nation" sei sie einmal gewesen, die deutsche Kanzelpredigt. Das Niveau der deutschen Sprache habe sie bestimmt. Nun aber sei sie in Routine eingefahren und "verkarstet". Die Prediger, forderte er einmal, müssten sich in Konkurrenz zu Parlament, Fernsehen und Rundfunk ihren einstigen Rang zurückgewinnen. Der glänzende Referent machte es in seinen Vorträgen vor, wenn er Predigt in der Sprache unserer Zeit forderte. Er selbst äußerte sich nicht nur im Hörsaal. Er sprach genauso auf Parteitagen, auf evangelischen Kirchentagen.
Fußball war eine Leidenschaft, die dem unterkühlt wirkenden Hochintellektuellen Bürgernähe garantierte. Schließlich war Jens in den 30ern zehn Jahre lang ein erfolgreicher Torhüter in einem norddeutschen Fußballclub. Unvergessen sind auch seine zündenden Worte und scharfzüngigen Analysen bei Fußball-Weltmeisterschaften. Noch im Jahr 2006 schlug er eine neue Nationalhymne mit einem Text von Bertold Brecht vor.
In einer anderen Welt
Während des Dritten Reiches war Jens Mitglied in der Hitlerjugend und im NS-Studentenbund, darüber war die Öffentlichkeit schon länger informiert. Spät hingegen und für seine Kritiker viel zu spät wurde im Jahr 2003 außerdem bekannt, dass Jens seit dem 1. September 1942 als Mitglied der NSDAP geführt wurde.
Mehr als 30 Jahre lang war Jens neben seinen unzähligen Publikationen unter dem Pseudonym "Momos" als kritischer Fernsehzuschauer für das Feuilleton der Wochenzeitung "Zeit" aktiv. Seine religiöse Identität spiegelt sich in verschiedenen Beiträgen zu Glaube und Theologie wider. Von 1989-1997 war Jens Präsident der Akademie der Künste in Berlin, danach deren Ehrenpräsident.
Die fortschreitende Demenz-Erkrankung hat Walter Jens inzwischen zu einem Mann gemacht, der sich selbst und sein Umfeld nicht mehr kennt. Er sei nicht mehr ihr Mann und in einer Welt, zu der sie keinen Zugang habe, sagte seine Ehefrau, die Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Inge Jens, vor ein paar Jahren in einem Interview.