Manche fahren Tausende Kilometer mit dem Rad, andere schwimmen durch den Ärmelkanal oder steigen ohne Sauerstoffmaske auf den Mount Everest. Aber auch, wer ein offenes Wort wagt oder dem anderen seine Liebe gesteht, geht ein Risiko ein. Mit ihrer diesjährigen Fastenaktion "7 Wochen Ohne" ermuntert die evangelische Kirche dazu, neue Wege einzuschlagen. "Riskier was, Mensch!", lautet der Appell der Kampagne für die Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern. Die Organisatoren rufen zu einem wagemutigen Experiment auf: "Sieben Wochen ohne Vorsicht."
"Es rauscht im Kopf"
Siegfried Kotthoff gehört zu denjenigen, die immer wieder etwas Neues wagen. Mit seinem Rad hat er China erkundet, ist am Nil entlanggefahren und tourte durch die kanadischen Rocky Mountains. Er war im Baltikum und am Nordkap unterwegs.
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"Sobald ich im Sattel sitze, ergreift mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl", schwärmt der 66-jährige Bremer, der beim Fahren die besten Einfälle hat. Je größer die Herausforderung und die Anstrengung ist, umso mehr blüht bei ihm das Denken auf. "Es rauscht im Kopf", sagt er und fügt hinzu: "Quatsch und Banales ist dabei, aber auch mancher Geistesblitz."
Halsbrecherisch ist das nicht, wenn Kotthoff gut vorbereitet auf Tour geht. Sieben Wochen etwas riskieren - das ist auch keine Anleitung zum mörderischen Risiko. "Das meint, mehr Lust auf das eigene Leben zu bekommen, Überraschendes zu denken", sagt die Kuratoriumsvorsitzende der Kampagne, Susanne Breit-Keßler: "Kein Risiko, kein wahres Leben", ist die Münchner Regionalbischöfin überzeugt. Sie spricht vom Mut, der auch nötig ist, um beispielsweise einen lange schwelenden Konflikt in der Familie endlich anzusprechen.
Kalender zur Begleitung durch die Fastenzeit
Seit 30 Jahren lädt die Aktion "7 Wochen Ohne" immer in der Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Ostern dazu ein, alte Pfade zu verlassen. Zum Beispiel eine Zeit lang keinen Alkohol zu trinken, ohne Auto auszukommen oder mal den Fernseher links liegenzulassen. Dazu bietet die edition chrismon jedes Jahr Begleitmaterial an: Tischkalender, Wandkalender, ein Arbeitsheft mit Texten. Diesmal wird es kribbelig, denn Mut ist gefragt.
Doch mehr Risiko zu wagen, das ist gar nicht so einfach, weiß Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie und Direktor am Institut für Hirnforschung an der Universität Bremen. Schließlich ist der Mensch ein Gewohnheitstier. Das Hirn liebt Rituale, damit es nicht jedes Mal eine neue Entscheidung treffen muss. "80 Prozent der Menschen halten gern an Gewohntem fest, weil das Hirn darauf positiv reagiert", sagt der Wissenschaftler.
Der Mensch tut nichts ohne Belohnung
Also bitte keine Experimente, darauf sind offensichtlich die Hirnwindungen gepolt. Läuft alles wie gewohnt, werden körpereigene Opioide als Belohnungsstoffe ausgeschüttet. "Deshalb sprechen wir auch von lieben Gewohnheiten", lacht Roth. Doch trotz aller biologischen Schwerkräfte lautet seine Botschaft: Veränderungen sind möglich - vorausgesetzt, die Belohnung ist groß genug. Denn: "Der Mensch tut nichts ohne eine Belohnung."
"Wie mein Rad finde auch ich das Gleichgewicht in der Bewegung", beschreibt Siegfried Kotthoff seinen Lohn. Radfahren ist für ihn so etwas wie Meditation. "Je stärker das Herz schlägt, desto mehr ist man bei sich." Und auch die Begegnungen in fremden Ländern geben ihm Kraft. "Die Freundlichkeit der Menschen hat uns 2.000 Kilometer durch das Land getragen", erinnert sich Kotthoff an die China-Tour, die er zusammen mit einem Freund gemeistert hat. "Zweifel", ergänzt er, "Zweifel an der Fahrt haben uns da nie geplagt".
Mut, jemand anderem seine Gefühle zu zeigen
Mehr Bewegung ist das eine. Die evangelische Theologin Breit-Keßler ermutigt aber auch dazu, Gefühle zu zeigen, selbst auf die Gefahr hin, dass sie nicht erwidert werden.
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"Wer ist denn stark?", fragt sie. "Doch nur, wer die Traute hat, zu sagen: Hier bin ich mit meiner Liebe, mit meiner Leidenschaft. Oder jemand, der es wagt, sich in eine andere Stadt, ein anderes Land aufzumachen und seinen Horizont zu erweitern." Sieben Wochen ohne Risiko sei der Aufruf, Leben zu wagen - "gegen unsinnige Einschränkungen und Ängste".
Auch wenn es schwer fällt, eingefahrene Wege zu verlassen, ein Risiko einzugehen: Hirnforscher Roth macht Mut, es einfach auszuprobieren. "Geh' Risiken ein, nicht zu große, das ist der Trick", rät der Neurobiologe und Philosoph, der weiß, dass das körpereigene Belohnungssystem besonders in eine Richtung anschlägt: "Die Freude an sozialen Kontakten verselbständigt sich, das Glück der anderen wird zu meinem eigenen Glück." Das spürt wohl auch Siegfried Kotthoff, der jetzt im Winter bereits an seine nächste Radtour denkt, diesmal mit seiner Frau Ulrike. "Im Mai geht es vier oder fünf Wochen in die Provence."