In wie weit ist der Fall Schavan mit dem Fall Theodor zu Guttenberg vergleichbar?
Christoph Markschies: Die Fälle sind kaum vergleichbar. Zu Guttenberg hat Expertisen, die ihm der wissenschaftliche Dienst des Bundestages in seiner Eigenschaft als Abgeordneter zugearbeitet hat, unter eigenem Namen veröffentlicht sowie mittels copy and paste Passagen beispielsweise aus Zeitungsartikeln unter eigenem Namen veröffentlicht. Das ist ein eindeutiges, schweres wissenschaftliches Fehlverhalten.
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Ein vergleichbarer Grad von wissenschaftlichem Fehlverhalten, der die Aberkennung der Promotion im Falle von Annette Schavan rechtfertigen würde, liegt bei ihrer Dissertation "Person und Gewissen. Studien zu Voraussetzungen, Notwendigkeit und Erfordernissen heutiger Gewissensbildung" definitiv nicht vor. Der zweite Teil ihrer Dissertation ist eine originelle wissenschaftliche Leistung, die Gewissensbildung und Wertevermittlung im Schulunterricht zum Thema hat.
Waren die wissenschaftlichen Standards für Promotionen 1980 (als Frau Schavan promovierte) andere als heute?
Markschies: Ja und nein. Natürlich galten viele Regeln damals so, wie sie heute gelten. Aber man muss sich immer klarmachen, dass Frau Schavan erstens eine sogenannte grundständige Promotion geschrieben hat (also keine Examens-, Magister- oder Diplomarbeit zuvor abfasste, ihre Examensarbeit war ihre Doktorarbeit). Wenn sich Universitäten für die Zulassung solcher grundständiger Promotionen entscheiden, ist klar, dass solche grundständigen Promotionen anders ausfallen als solche, bei denen die Promotion bereits die zweite eigenständige wissenschaftliche Arbeit ist.
Zweitens war Frau Schavans Doktorvater Gerhard Wehle von einer Pädagogischen Hochschule an die Düsseldorfer Universität gewechselt und hat seiner Promovendin ein Thema gestellt, dass von ihr referierende Abschnitte über Luhmann, Erikson, Adler, Fromm, Piaget, Kant, Heidegger und andere große Denker von jeweils rund zehn Seiten forderte. Solche referierenden Abschnitte über Philosophen, Psychologen und Soziologen können von Fachfremden ohne viel wissenschaftliche Erfahrung nur gleichsam "am Gängelband" der Sekundärliteratur erstellt werden. Dabei kommt es selbstverständlich zu einer Fülle von paraphrasierenden Abschnitten, die man früher eher summarisch dokumentierte und nicht im Blick auf jeden einzelnen Satz mit einer Fußnote. Mein katholischer Kollege Ludger Honnefelder, ein prominenter Philosoph aus Bonn, äußert sich durchaus anerkennend über die Qualität dieser knappen referierenden Abschnitte. Einen Grund, der Autorin den Doktorgrad zu entziehen, stellen sie jedenfalls nicht dar.
"Zuallererst ist der Doktorvater und das Institut der Universität verantwortlich zu machen"
Wie kann es sein, dass die Betreuer und Gutachter der Arbeit damals die heute bemängelten Fehler nicht bemerkt haben? Darf man rückwirkend heutige Standards ansetzen?
Markschies: Gerhard Wehle hat offenkundig eine Dissertation gewünscht, in der knappe Zusammenfassungen einflussreicher Theoretiker nachzulesen sein sollten. Frau Schavan hat jeweils die Passagen, auf die sich ihre Leitautoren aus der Sekundärliteratur bezogen, in den kritischen Textausgaben von Kant oder Freud nachgesehen. Es ist wenig verwunderlich, dass sie sich von den Leitperspektiven der Sekundärliteratur auf die großen Denker nicht lösen konnte.
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Ich würde (wie viele Kolleginnen und Kollegen) solche außerordentlich schwierigen Themen wie schwer bearbeitbaren Aufgaben meinen Doktorandinnen und Doktoranden nicht stellen. Wenn man eine derartige Aufgabenstellung als Fehler bezeichnen möchte, dann ist zu allererst der Doktorvater und das entsprechende Institut der Universität Düsseldorf dafür verantwortlich zu machen. Freilich wurden und werden solche Aufgaben bis heute vielfach gestellt und vielfach ähnliche Arbeiten geschrieben. Man müsste, wenn man Annette Schavan den Doktorgrad entzieht, ihn schon aus Gleichbehandlungsgründen vielen hunderten Promovierten ebenfalls entziehen. Insofern sollte man sehr vorsichtig damit sein, heutige eigene Standards als allgemeinverbindliche anzusetzen.
Gibt es eine akzeptable Schwelle, unterhalb der Plagiate in einer Dissertation nicht zum Entzug des Doktortitels führen müssen?
Markschies: Bei Frau Schavan liegen meiner Ansicht nach keine Plagiate vor, sondern eine andere Praxis der Dokumentation von paraphrasierten Sätzen, als ich sie selbst habe, im akademischen Unterricht vermittle und sie in historischen Fächern üblich ist. Allerdings nehme ich (im Unterschied zur Düsseldorfer Kommission) zur Kenntnis, dass es Zeiten und Fachgebiete gab und gibt, die es exakt so halten, wie es Frau Schavan 1980 hielt.
Wenn eine Autorin oder ein Autor bewusst mehrfach Texte anderer wörtlich übernimmt, ohne deren Autorinnen oder Autoren auszuweisen, weil fremde Leistungen als eigene ausgegeben werden sollen, liegt ein Täuschungsversuch vor, der auch rückwirkend dazu führt, dass die entsprechende Prüfungsleistung als ungültig zu werten ist. Die "Schwelle" zwischen gerade noch akzeptablen, unbeabsichtigten Flüchtigkeiten und einem absolut inakzeptablen, bewussten Täuschungsversuch ist leider nicht mathematisch durch Abzählen zu bestimmen, sondern eine Frage subjektiver Einschätzung der Gutachtenden. Im Laufe eines akademischen Lebens entwickelt man dafür ein Gefühl. Ich bin mir sicher, dass Frau Schavan in ihrer Dissertation keinen bewussten Täuschungsversuch unternommen hat.
"Gegen wirklich schweren Betrug ist man nicht gefeit"
Wie schätzen Sie es sein: Handelt es sich bei den bekannt werdenden Plagiaten um Einzelfälle oder Ist die Mehrheit aller Doktorarbeiten fehlerhaft?
Markschies: Bei der Beurteilung von wissenschaftlichen Arbeiten geht es erst einmal darum, die wissenschaftliche Originalität einzuschätzen (und, wie gesagt, nicht darum, Fehler auszuzählen). Ich vertraue darauf, dass auch in der Vergangenheit meine Kolleginnen und Kollegen an den Universitäten in der Lage waren, zu beurteilen, ob originelle Forschungsleistungen vorlagen oder nicht. Und dies auch konnten, wenn noch keine Plagiatssoftware sie dabei unterstützte. Ich merke, ob ein Gedanke von prominenten Anderen entlehnt ist, selbst wenn ich nicht den Wortlaut des Textes, aus dem entlehnt wurde, vor mir habe. Gegen wirklich schweren Betrug wie im Falle Guttenberg ist man nicht wirklich gefeit, aber da hilft ja nun entsprechende Software.
Haben Universitäten die Verantwortung, selbst eine Plagiats-Sucheinheit aufzustellen, oder verlassen sie sich weiterhin auf Hinweise von außen?
Markschies: Überraschenderweise bestehen enge personelle Verbindungen zwischen den kommerziellen Anbietern von Software, mit deren Hilfe man Plagiate in Texten identifizieren kann und den Personen, die auf "Vroniplag" und anderen Plattformen öffentlichkeitswirksam Dissertationen von Politikerinnen und Politikern durchsuchen. Auch wenn es diesen etwas unangenehmen Beigeschmack einer als Kampf für gute Wissenschaft geführten Werbekampagne für die eigene Plagiatssoftware hat, werden Universitäten nicht umhinkommen, Arbeiten in Zukunft auch als PDF anzufordern und mit einer (sehr guten!) Plagiatssoftware durchsuchen zu lassen.