Was ist in Frankreich los?
Johannes M. Becker: Die Veranstalter sprechen von fast einer Million Teilnehmer, die Polizei hingegen von 340.000 Menschen. Ich war nicht dabei. Es ist eine riesige Demonstration gewesen, keine Frage. Man darf bei aller euphemistischen Sicht auf Frankreich, die vor allem in der deutschen Linken vorherrscht mit "Land der Revolutionen" und "Land der Alternance, einer gewählten Linksregierung unter aktiver Beteiligung von KommunistInnen", nicht außer Acht lassen, dass dieses Land strukturell konservativ ist. Das Gros der Bevölkerung hat bis auf wenige Ausnahmen immer konservativ gewählt. Selbst wenn die Kirchen leer bleiben, sind 80 Prozent der Bevölkerung katholisch. Von der nichtmuslimischen Bevölkerung sind gar an die 95 Prozent katholisch und 5 Prozent protestantisch.
Wer demonstriert da eigentlich und warum?
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Becker: Wenn ich die Medien richtig gelesen habe, ist ein Großteil der protestierenden Menschen aus der ländlichen Bevölkerung mit TGVs und mit Bussen herangekarrt worden. Da kommt ein Konglomerat an strukturell konservativen und durch die Krise verunsicherten Menschen zusammen. Die neoliberalistische Krise in den letzten zwei Jahren hat Frankreich anders gebeutelt als es uns hierzulande erwischt hat. Bei uns glauben die Menschen den offiziellen Statistiken, etwa, dass wir die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 20 Jahren hätten. Die Realität ist in Deutschland eine andere. Ich weiß, dass von 41 Millionen Arbeitnehmern 9,7 Millionen prekär arbeiten und nicht das Geld verdienen, von dem sie leben können. Wir haben in Deutschland eine gewaltige Altersarmut vor uns. In Frankreich gibt es diese kaschierenden Systeme nicht. Dort gibt es wieder eine Jugendarbeitslosigkeit, die von der Regierung auf 25 Prozent geschätzt wird. Schätzungen meiner Freunde in Paris gehen hoch bis zu 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Dieses Ausmaß der Krise, vor allem betreffend die Jugend, die Zukunft einer Gesellschaft, verunsichert eine Gesellschaft zutiefst.
"Der Protest gegen Schwule und Lesben ist Zufall"
Warum richtet sich diese Verunsicherung gegen Lesben und Schwule?
Becker: Das ist Zufall. Der Protest hätte sich auch gegen etwas vollkommen anderes richten können. Hätte es zum Beispiel einen Vorfall in einer muslimischen Gemeinde gegeben, hätten die Demonstranten auch beispielsweise gegen das Schächten auf die Straße gehen können. Der strukturelle Konservatismus bündelt Kräfte und Unzufriedenheit, die sich leider im Augenblick gegen Schwule und Lesben richtet. Er richtet sich nicht allgemein gegen Homosexuelle. Eigentlich ist das Thema im Hexagon durch. Frankreich war schließlich Vorreiter bei der eingetragenen Lebenspartnerschaft. Paris hat einen Homosexuellen als Bürgermeister. Auch in meinem kleinen Dorf in Südfrankreich gibt es einen schwulen Bürgermeister. Und das Gros der Bevölkerung ist zufrieden damit.
Die Konservativen hingegen befinden sich vielmehr in einer fürchterlichen Situation. Der Wahlverlust von Nicolas Sarkozy hat die konservative Partei in eine tiefe Krise mit innerfraktionellen Kämpfen geführt. Jetzt ergibt sich für diese Partei eine wundervolle Konstellation: nämlich, dass die katholische Kirche mit ein paar fundamentalen Organisationen an ihrer Seite dieses Zufallsthema der Lesben und Schwulen aufgreift, um damit in die Offensive zu gehen. François Hollande selbst hat ohne Zweifel ein paar politische Webfehler gemacht. Aus meiner Sicht ist seine Politik der Steuergerechtigkeit nicht schlecht, aber sie ist handwerklich schlecht umgesetzt worden. Zweitens hat er ein Programm für 150.000 Arbeits- und Ausbildungsplatzlose Jugendliche aufgelegt. Hollande macht in Teilen eine gute Politik, aber sie ist schlecht kommuniziert.
Das heißt, dass dieser Protest, der demnach ein Stellvertreterprotest ist, sich eigentlich gegen den französischen Präsidenten richtet?
Becker: Ja, so sehe ich das. Aus nahezu allen Lagern gibt es Kritik gegen den Präsidenten. Hollande bedient, ein Nebenaspekt, auch die wieder erstarkte Linke nicht richtig. Aus der Linken hat er Opposition gegen sich. Er hat Gegner bei den Liberalen, er hat aber auch Opposition aus einem Teil der Front National gegen sich. Das ist eine Gemengelage, in der der Präsident eigentlich nur mit einer offensiven linken Sozialpolitik gegen agieren kann. Was er allerdings im Augenblick macht, ist etwas völlig anderes. Er profiliert sich als der starke Mann in der Außen- und Sicherheitspolitik! Er interveniert in Mali und versucht, mit Militär den Islamismus zurück zu drängen. Das ist nach meiner Sicht die falsche Reaktion.
"Der Protest richtet sich vielmehr gegen die Politik Hollandes"
Warum erfährt man in Deutschland nur wenig über die Befürworter der Homo-Ehe und des Adoptionsrechts, die in Frankreich faktisch die Mehrheit bilden?
Becker: Das Bild, das bei uns in den Medien verbreitet wird, hat mit der Realität, die in Frankreich existiert, relativ selten etwas zu tun. Politik muss vermittelt, muss verkauft, muss ins Massenbewusstsein der Menschen implantiert werden. Das Adoptionsrecht für Lesben und Schwule wurde nicht richtig "verkauft". Ich glaube, dass dieser Fehler bei der Regierung Hollande liegt. Man hat zu schlecht vermittelt und sich darüber hinaus der Bündnispartner in den Nicht-Regierungsorganisationen zu wenig versichert. Jetzt gibt es eine Koalition, die sich eigentlich gegen den vorliegenden Fakt, also gegen die neue Qualität des Adoptionsrechts von Lesben und Schwulen, am wenigsten wehrt. Der Protest richtet sich vielmehr gegen die Politik Hollandes.
Welche Rollen spielen die Kirchen in Frankreich in diesem Prozess?
Becker: Unsere Medien vermitteln den Eindruck, dass die katholische Kirche in der Gegnerschaft von Hollande steht. Das stimmt so nicht. Sie steht im Gros konservativ gegen ihn, aber es gibt eine Basiskirche, die sich der Arbeiterbewegung verpflichtet fühlt, die zum Teil von den Menschen auf dem Land selbst finanziert wird. Diese weiß sehr wohl, das Hollande eine Politik macht, die den Menschen mehr nützen wird, als das, was Sarkozy in den letzten Jahren gemacht hat. Im Prinzip aber steht die katholische Kirche frontal gegen ihn.
"Die Menschen wollen Sicherheit"
Wissen Sie, wofür die Demonstranten einstehen?
Becker: Das kann ich nur vermuten. Ich habe mit den Leuten nicht gesprochen. Ich nehme an, dass Sicherheit das große Thema der letzten 15 Jahre ist. Das fängt mit einer großen Angst unter alten Leuten an, auf der Straße überfallen zu werden. Jugendliche fürchten sich vor Massenarbeitslosigkeit und über 45-Jährige haben Angst, ihre Jobs zu verlieren. Alle wollen Sicherheit.
Warum liest man das nicht in der deutschen Presse?
Becker: Es wird immer weniger französisch gelernt an unseren Schulen. In Frankreich wird immer weniger deutsch gelernt. Obwohl unsere Strukturen durch die Europäische Union, durch die Einführung des Euro und durch die europäische Gesetzgebung objektiv zusammen wachsen: Das Wissen voneinander wird immer weniger. Das ist wirklich ein großes Problem.