Hier endet die Geschichte vom Zöller Zachäus abrupt. Als nächstes erfahren wir, dass Jesus ein Gleichnis über Gaben erzählt, aus denen man ordentlich etwas machen soll. Was aus Zachäus wird, erfährt man nicht. Weder erfahren wir, ob Zachäus mit Jesus weiter zieht, noch bekommen wir einen Hinweis darauf, ob Zachäus tatsächlich wahr macht, was er bei Abendessen mit Jesus so vollmundig ankündigt. Dabei ist das doch spannend: Was wird aus solchen Menschen, denen blitzartig klar wird, dass sie ihr Leben ändern müssen und wollen? Wie sagt Jesus zu ihm? "Heute ist diesem Haus Heil widerfahren." Wie wirkt es sich auf das Leben aus, wenn man tatsächlich eine solche Epiphanie hat, wie sie dem Zöllner Zachäus widerfahren ist?
Fragen nach dem, was die Bibel nicht erzählt
Solchen Fragen nachzugehen, dazu ist der "Bibliolog" da, eine Methode, bei der mehrere Menschen in dieselbe biblische Rolle schlüpfen und miteinander teilen können, was ihrer Meinung nach diese Person wohl gedacht haben mag, gefühlt oder erlebt. Dieser Ausflug in die Bibel wird von einer gut geschulten Leitung begleitet. Sie führt zunächst in die Geschichte ein, dann gibt sie den Anwesenden die erwähnte biblische Rolle – allen dieselbe. Zu der Rolle kommt eine Frage. In diesem Fall zum Beispiel eine Frage an Zachäus – und zwar ein Jahr nachdem Jesus bei ihm zum Abendessen war: "Zachäus, sag mal, jetzt, ein Jahr später. Wie hat sich dein Leben eigentlich entwickelt, seit Du diese Begegnung mit Jesus hattest?"
###mehr-links###Darf man das? Darf man einfach so mit der Bibel spielen? Der Bibliolog sagt: O ja, denn es geht hier ja nicht darum, nach etwas zu fragen, was die Bibel selbst beantworten könnte. Wenn man Paulus fragen würde, was er ein Jahr nach seiner Bekehrung in Damaskus so macht, dann wäre das keine zulässige Frage, weil es darauf ja "richtige" Antworten gäbe, zumindest kann man anhand der biblischen Quellen ungefähr errechnen, was der Apostel ein Jahr nach Damaskus tatsächlich macht. Der Bibliolog aber fragt nach dem, was nicht in der Bibel steht, nach den weißen Zwischenräumen zwischen den schwarzen Buchstaben. Also darf man Zachäus nach seinem weiteren Leben nach der Baumbesteigung fragen. Auf diese Frage gibt es nicht nur eine, sondern sehr viele Antworten, von denen keine richtig oder falsch ist, sondern spannend, bereichernd und manchmal so überraschend, dass man beinahe selbst eine "Epiphanie" hat. So sammelt also die Bibliologleitung die verschiedenen Antworten der Teilnehmenden ein und bindet einen Strauß von Auslegungsmöglichkeiten.
###mehr-artikel###Im Fall von Zachäus durfte ich einmal an einem Bibliolog teilnehmen, in dem genau diese Frage an Zachäus gestellt wurde – ein Jahr danach: "Was machst Du heute?" In der Rolle von Zachäus hatte ich plötzlich ein klares Bild vor Augen von diesem Mann, der tatsächlich von Jesus persönlich Besuch bekommen hatte, dem wirklich sein Geld nicht mehr so wichtig war, der aber trauriger Weise seit diesem Tag regelmäßig auf den Baum kletterte, von dem aus er Jesus gesehen hatte. Ich sah mich als Zachäus am Jahrestag des Besuchs wieder auf dem Ast sitzen und nach Jesus Ausschau halten, der nie wieder vorbeigekommen war, noch jemals wieder kommen würde.
"Zachäus" versteht, dass Glaube sich entwickeln muss
"Mein" Zachäus saß da, und endlich wurde ihm klar, dass er etwas Entscheidendes übersehen hatte, nämlich, dass es anders weitergehen musste. Er kletterte vom Baum und machte sich auf den Weg hinaus aus seiner Stadt, um nachzusehen, was aus Jesus wohl geworden sei. Weiter dachte ich als Zachäus nicht. Vielleicht hat er bald erfahren, dass Jesus mittlerweile gekreuzigt und auferstanden war. Ich selbst habe auf jeden Fall durch diesen geliehenen Augenblick erfahren, dass sich der Glaube immer wieder weiterentwickeln muss, wenn er lebendig bleiben will. Wenn wir immer nur wiederholen, was uns einmal gut getan hat, entgeht uns eventuell, dass das Leben weitergeht. Zachäus muss endlich vom Baum runter. Er muss kapieren, dass eine Begegnung mit Jesus nicht mehr so verläuft, wie er das einmal getan hat. Ich bin recht zuversichtlich für meinen erdachten Zachäus. Ich glaube, dass er Menschen gefunden hat, mit denen er Jesus wiedergefunden hat, nur eben anders.