Eine neue Volkskrankheit macht Angst. Immer mehr Menschen kommen in das Alter, in dem die Wahrscheinlichkeit einer Demenzerkrankung steigt. Faustregel: Im Alter von über 65 Jahren ist jeder Zehnte, mit über 80 jeder Fünfte, mit über 90 jeder Dritte betroffen. Von derzeit mehr als 1,4 Millionen insgesamt wird die Zahl sich bis zum Jahr 2050 auf etwa 3 Millionen erhöhen, rechnet die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft vor.
Im Alter pflegebedürftig zu werden gehört seit Jahren zu den sieben größten Ängsten der Deutschen, wie eine Studie der Versicherer der Volks- und Raiffeisenbanken herausfand. Letztere bieten als Antwort darauf ihre private Pflegezusatzversicherung an. Die Nachfrage muss angekurbelt werden, denn die potentiellen Kunden zweifeln offenbar, dass eine Versicherung hilft - zumal angesichts des künftigen Pflegekräftemangels, der immer wieder für negative Schlagzeilen sorgt.
Besser selbst Schluss machen?
Dann besser selbst Schluss machen, wie Gunter Sachs mit seinem Freitod 2011 aus Sorge vor der "ausweglosen Erkrankung Alzheimer"? Etwa die Hälfte aller Bundesbürger würde sich "kostenlos bei einem Suizid begleiten lassen", wenn sie in einem Jahr pflegebedürftig würden. So lautet das Ergebnis einer Infratest-Umfrage, welche die Deutsche Hospiz-Stiftung Mitte vergangenen Dezembers veröffentlichte.
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Einige Experten versuchen inzwischen, in der öffentlichen Diskussion gegenzuhalten. Peter Michell-Auli, Geschäftsführer des Kuratoriums Deutsche Altershilfe, betont, dass Menschen mit Demenz ihre Gefühle meist stärker als andere zeigen: "Dadurch können sie uns helfen, offener und toleranter zu werden." Autor Huub Buijssen bezeichnet in seinem Buch "Die magische Welt von Alzheimer" die Kranken als die besten "Dolmetscher" für die Geheimnisse des Menschen, weil sie nichts mehr überspielen könnten.
Noch weiter geht Karin Wilkening, kürzlich emeritierte Professorin an der Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel. Sie vergleicht den Geisteszustand dementer Menschen mit spirituellen Erfahrungen. Wie kommt sie dazu? "Das ist eine lange Geschichte", sagt sie. Als sie vor 40 Jahren ihr Diplom in Psychologie gemacht habe, sei die Demenz noch "ein ganz kurzes Kapitel" im Lehrbuch gewesen. Sie selbst habe sich bis dahin wenig mit psychischen Erkrankungen beschäftigt.
Auch Demenzkranke haben etwas zu geben
Die Wende bringt der plötzliche Tod ihres ersten Sohnes im Alter von drei Jahren. Über eine Trauergruppe der Diakonie Hannover, die sie leitet, und über Aufenthalte in Großbritannien und den USA findet sie den Weg zu ihren zwei großen Arbeits- und Forschungsthemen: Sterbebegleitung und Demenz. Einen Anstoß geben Witwen in der Trauergruppe, die von der Demenz ihrer Männer erzählen.
Wilkening leitet später die ersten Gruppen für pflegende Angehörige, wird Mitgründerin der Deutschen Alzheimergesellschaft und der "Aktion Demenz e. V.". Inzwischen weiß die Wissenschaft, dass Menschen mit Demenz eine geeignete Umgebung brauchen und die richtige Art der Kommunikation, um möglichst gut zurecht zu kommen. Karin Wilkening forscht und vermittelt das Wissen an Pflegekräfte, pflegenden Angehörige und ihre Studenten.
Das erste "Aha-Erlebnis" der Professorin war die Erkenntnis, dass Demente selbst Hospizhelfern etwas zu geben haben. Wilkening war aufgefallen, dass das Thema Demenz in der Hospizhilfe keine Rolle spielte, "als wären Sterbende nie dement". Umgekehrt war die Sterbebegleitung kein Thema der Alzheimer-Gesellschaft, "als wäre der Tod das geringste Problem". 2003 versuchte Wilkening in ihrem Buch "Sterben im Pflegeheim", die beiden Aspekte Demenz und Sterben erstmals miteinander zu verbinden.
Keine intellektuelle Angst vor dem Sterben
Hospizhelfer werden seitdem im Umgang mit dementen Sterbenden geschult. Zu Wilkenings Überraschung erklären erfahrene Helfer jedoch immer wieder, dass dieses Begleiten gar nicht so schwierig sei wie gedacht. Denn anders als geistig klare Kranke müssten Demente keine intellektuelle Angst vor dem Sterben überwinden: Sie lebten im Hier und Jetzt und fürchteten sich kaum vor dem, was kommt.
Das zweite "Aha-Erlebnis" hatte Wilkening durch eine "Transdisziplinäre Arbeitsgruppe Spiritualität und Krankheit (TASK)“ mit Experten aus Hochschulen. Dort habe sie das erste Mal Definitionen von Spiritualität gehört, wonach diese Teil des Wesenskerns eines jeden Menschen ist. "Das fand ich spannend und hilfreich", sagt die Wissenschaftlerin.
Als sie den Vorträgen lauscht, fällt ihr auf: Was als positives Ziel der Meditation beschrieben wird, gilt bei Demenzkranken zum Teil als Krankheitssymptom: Aus Gefühlen gesteuert zu werden, das Bewusstsein für Zeit, Raum und die eigene Person zu verlieren, alles loszulassen. Wilkening beschreibt es so: Die "Autonomie-Illusion" aufgeben, zu Gunsten eines Lebens in starker Beziehung zum sozialen Umfeld, zur Natur und zu einem göttliche Wesen.
Lebensnotwendiges Gottvertrauen
"Andachten und Gebete können auch Menschen mit Demenz noch miterleben und sich davon berühren lassen", sagt die Forscherin. Ohne Gottvertrauen könnten sie nicht leben. "Wir aber auch nicht, das geht uns zwischendurch im dauernden Bemühen um Aufrechterhaltung von Kontrolle und Selbstbestimmung verloren." Im Unterschied zu gesunden Menschen könnten Menschen mit Demenz jedoch nicht zwischen den verschiedenen Bewusstseinszuständen wechseln.
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Ihre Erkenntnisse träfen nicht auf alle Demenzformen zu, betont Wilkening. "Ich kann die Angst vor Demenz gut verstehen", sagt sie: "Wir schätzen die kognitiven Fähigkeiten eben höher als die Intuition." Wer ihr selbst zur Seite stünde, wenn sie keine Orientierung mehr hätte, darüber denke sie schon nach, "aber ich versuche mich nicht verrückt zu machen".
"Mein Vortrag damals in der TASK-Expertengruppe war provokant", sagt die Wissenschaftlerin und ergänzt: "Ich will nicht die Demenz schönreden. Aber wenn man Erfahrung mit Spiritualität hat, kann man sich in Kranke einfühlen. Sie sagen Sätze, die in einem Meditationsseminar Bewunderung auslösen – warum soll man sie bei ihnen ablehnen?“