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"Jetzt würde ich es nicht mehr tun"
Gisela Mayer hat ihre damals 25-jährige Tochter im Amoklauf von Winnenden verloren. Sie hat daraufhin das Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden mitgegründet, dass versucht, die Täter zu verstehen und junge Menschen davon abhalten will, solche grausamen Taten zu begehen.
21.12.2012
evangelisch.de

Sie haben das Aktionsbündnis mitgegründet, um zu verhindern, dass so etwas wie in Winnenden noch mal passieren kann. Wie gehen Sie vor? 

Gisela Mayer: Amokgeschehen sind komplex. Dennoch ist es nicht so unübersichtlich, wie man auf den ersten Blick denkt. Es gibt drei wesentliche Faktoren. Der primäre Faktor sind das Verhalten und die Psyche des Täters. Das zweite ist der Zugang zu Waffen und das dritte sind Gewaltmedien. Das sind die drei Felder auf denen wir arbeiten. Das war jetzt in Newtown auch wieder gegeben. Der Täter war eine sehr schwierige Persönlichkeit aus schwierigen persönlichen Verhältnissen. Er hatte nahezu freien Zugang zu Waffen. Und das ist noch nicht bestätigt, aber anscheinend hatte er exzessiven Umgang mit Gewaltspielen. Diese Faktoren sind bei allen bisherigen Amoktätern zu beobachten. Also versuchen wir auf allen drei Gebieten zu arbeiten. Zwei davon, Medien und Waffenzugang, sind politische Gebiete, da agieren wir mit Politikern. Im Bereich der Prävention arbeiten wir selbst mit Schulen und Organisationen zusammen.

Was machen Sie in der Schule? 

Mayer: Wir bieten zum einen ein Klassenzimmer-Theaterstück an, das die alltägliche Gewalt thematisiert. Das heißt den Beginn der Gewalt, der sich dann im ungünstigen Fall bis zum Exzess steigern kann, wie wir es jetzt wieder gesehen haben. Wir orientieren uns dabei an dem Rahmenprogramm des Landes Baden Württemberg "stark.stärker.WIR"  und kooperieren mit  anderen evaluierten Programmen. Und wir informieren und sensibilisieren bei Veranstaltungen all diejenigen auf, die mit Erziehung zu tun haben. Die andere Seite ist, dass wir mit denen ins Gespräch kommen, die straffällig wurden, aber zum Glück niemals einen Amoklauf gemacht haben. Das sind dann jugendliche Täter, Beinahe-Täter, die uns von den Gerichten zu einem Gespräch zugewiesen werden. Bisher waren es durchweg junge Männer, wir hatten noch kein einziges Mädchen dabei.

"Wie wütend er ist, wie viel Hass er hat, dass er am liebsten alle umbringen würde"

Versuchen sie auch an nicht-straffällig gewordene potenzielle Täter heranzukommen? 

Mayer: Die potenziellen Täter, die nicht straffällig geworden sind, zeigen sich nicht. Wir gehen in die Schulen und machen Prävention indem wir mit den Lehrern sprechen. Die möglicherweise Auffälligen sehen wir nicht persönlich, da werden wir von Lehrern und im schulischen Umfeld Tätigen angeschrieben, angesprochen und angerufen. Wir versuchen, so gut wir können zu helfen, in dem wir Gespräche führen oder an qualifizierte Stellen weiter verweisen.  

Wie erkennt ein Lehrer einen gefährlichen Jugendlichen? 

Gisela Mayer. Foto: Thomas Meyer

Mayer: Daran, dass er nicht auffällig ist. Das ist widersprüchlich, aber so ist es. Das sind junge Menschen, die sich häufig sehr stark zurückziehen, den Kontakt zu ihrem Umfeld verlieren und sich in eine virtuelle Welt zurückziehen. Dann aber, das könnte einem Deutschlehrer auffallen, sind sie in ihren Gedanken oft sehr beschäftigt mit Gewalt- und Tötungsphantasien. Teilweise bringen sie das in Schulaufsätzen zum Ausdruck. Oder Schulkameraden werden aufmerksam. Deswegen müssen auch die Lehrer mit Schülern sprechen, damit sie aufmerksam werden, wenn ein junger Mensch nur noch davon spricht, wie wütend er ist und wie viel Hass er hat, dass er am liebsten alle umbringen würde.

Können die Lehrer und Jugendlichen diese potenziell gefährlichen Jugendlichen an sie vermitteln? 

Mayer: Jederzeit. Wir können dann die zuständigen Stellen einschalten und empfehlen, dass ein Schulsozialarbeiter, ein Psychologe oder andere eingeschaltet werden. Oder aber sie können auch zu uns zu einem Gespräch kommen.  

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Ist das schonmal vorgekommen, dass sie solche Jugendlichen vermittelt bekommen? 

Mayer: Wir haben, leider Gottes, mehr Anfragen zu individuellen und die Klassengemeinschaft betreffenden Problemen, als wir bewältigen können.

Was machen Sie mit denen, die zu ihnen kommen? 

Mayer: Wir unterhalten und immer unter vier Augen mit diesen jungen Menschen. Da sitze unter anderem ich, ich bin von der Ausbildung her auch Psychologin. Die jungen Männer kommen häufig sehr belastet und mit großen Vorurteilen. Es geht dabei nicht um eine psychologische Beratung, dafür sind Schulpsychologen die qualifizierten Ansprechpartner. Es geht darum, dass ich eine Mutter bin, die ihr Kind verloren hat und die ihnen gegenübertritt. Und das verunsichert sie, denn sie sehen die Seite des Opfers. Sie sehen in mir denjenigen den sie eigentlich zu treffen versuchen. Oder in Person meiner Tochter, den Kreis derer den sie hassen und den sie dann getroffen hätten. Und was ich tun kann, ist, zu versuchen mit ihnen zu sprechen und das ist mir zum Glück bisher immer gelungen. Auch ihnen deutlich zu machen, dass ich nicht das tue, was die meisten machen, nämlich ihnen Strafe androhe. Sondern ich versuche ihnen klarzumachen, was die Realität dessen bedeutet, was sie gedanklich durchspielen.  

Gibt es einen Knackpunkt, an dem sie ansetzen, so etwas wie einen Eisbrecher? Denn ich stelle mir vor, dass diese Jugendlichen kommen und ihnen nicht richtig in die Augen gucken und ihre Arme vor dem Körper verschränken? 

Mayer: Ja, so ist es. Sie sind in voller Abwehrhaltung, zwischen Unsicherheit und Blockade. Sie kommen sehr verschlossen und keineswegs gerne. Überhaupt nicht. Ich öffne sie, indem ich zuerst einmal sage, dass ich dazu da bin, ihnen zuzuhören. Ich erzähle ihnen wie die Realität aussieht. Denn in hundert Prozent der Fälle machen sie sich das nicht wirklich klar. Ihre gedanklichen Spiele haben nichts mit der Realität zu tun, die ich nun einmal kenne. Ich kann ihnen diese Realität verdeutlichen. Das kann ich auch auf verschiedene Arten. Ich kann erzählen, ich kann ihnen Bilder zeigen, der Menschen, die getötet worden sind. Ich zeige ihnen, dass diejenigen, die sie so sehr hassen, Menschen sind, wie sie selbst.

"Wenn man sie wieder in Kontakt bringt mit der Realität, mit dem Menschsein ihrer möglichen Opfer, dann ändert sich etwas."

Aber berührt das diese Jugendlichen? Denn das sind doch auch die Menschen, die sie treffen wollen? 

Mayer: Ja, das berührt sie. Sie sind häufig überrascht. Ich hatte zwar auch solche, bei denen ich dann den Gerichten empfohlen habe, vorsichtig zu sein. Aber es hat sonst fast alle wirklich berührt und hat in allen Fällen dazu geführt, dass sich diese jungen Menschen geöffnet haben. Im Idealfall, da habe ich jetzt wieder einen Fall hier gehabt, können sie sich wirklich öffnen, wenn sie sicher sind, dass es mir nicht um Bestrafung und Anklage geht, sondern eigentlich, darum, dass sie ihr eigenes Tun erkennen. Dann können sie plötzlich auch von eigenen Verletzungen sprechen. Dass sie in ihrer Jugend immer missverstanden wurden. Das sind ja meistens so 16- bis 18-Jährige. Und immer wenn sie traurig waren, hat man gedacht, sie wären wütend gewesen und hat entsprechend reagiert. Wieder mit Restriktion und Bestrafung. Und das macht mich nachdenklich. 

Dass ihrer Traurigkeit mit Gewalt begegnet worden ist, ist das ein Muster bei allen diesen Jugendlichen? 

Mayer: Ja, das ist so ein Muster. Auch, dass sie dann mit Gewalt geantwortet haben. Diese jungen Menschen sagen: "Ja, gut, wenn immer alle dachten, dass ich wütend war, dann wurde ich auch eines Tages wütend." Und ich konfrontiere sie damit, was ihre Wut dann wiederum bei anderen bewirken würde, wenn sie diese Wut ausleben. Das ist ihnen in den meisten Fällen nicht in dieser Konsequenz klar. 

Sie versuchen deren Gewaltfantasien aufzugreifen und durchzuspielen, was wäre, wenn sie real wären? 

Mayer: Ja und dann erschrecken sie vor sich selbst. Ich erzähle den Jugendlichen dann einfach ganz konkret mit kleinen Einzelheiten, wie das ist, wenn jemand vor ihnen auf dem Boden liegt und wenn man dann noch einmal schießt. Und wie es sich anfühlt, wenn ein junger Mensch dann einfach weg ist. Also ganz einfache Dinge. Dinge aus dem Alltagsleben, was so ein Tod bedeuten kann, was er auslöst. Was die Geschwister denken, wie es der Familie geht. Dinge, die haben vorher überhaupt nicht interessiert, weil sie nur ganz unpersönlich an die Zahl der Opfer gedacht haben. Die jungen Männer denken oft, ich wolle ihnen die Namen der Opfer sagen und die wollen sie nicht wissen. Und ich sage dann: "Nein, Moment, es sind Menschen." Wenn man ihnen das klarmacht, wenn man sie wieder in Kontakt bringt mit der Realität, mit dem Menschsein ihrer möglichen Opfer, dann ändert sich etwas. Und wenn ich am Ende eines Gespräches nachfrage, kriege ich eigentlich immer die Antwort: "Wenn ich das gewusst hätte. Jetzt denke ich anders darüber. Jetzt würde ich es nicht mehr tun."

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Wie viele Gespräche haben sie mit den Einzelnen? 

Mayer: Ich rede im Allgemeinen einmal. Wenn der Wunsch nach mehr Gesprächen besteht, stehe ich natürlich zur Verfügung. Das hatte ich aber bisher noch nicht. Meistens bekomme ich die Rückmeldung, dass es gut gewesen wäre. Die jungen Menschen müssen ja dann Berichte über das Gespräch schreiben. 

Warum sind sie sich sicher, dass das nachhaltig ist?  Weil sein Umfeld bleibt ihm ja. 

Mayer: Ich müsste eine jahrelange Kontrolle machen. Aber das übersteigt unsere Möglichkeiten. Da verlasse ich mich auf die Arbeit der Jugendgerichtshilfe, der Jugendämter und derer, die nach diesen jungen Menschen sehen.

In Deutschland gibt es immer wieder den Vorwurf, man würde sich zu viel um die Täter kümmern und zu wenig um die Opfer. Was sagen sie dazu? 

Mayer: Das ist zweifellos richtig. Das stimmt. Deutschland hat eine ganz schlechte Kultur, was Opfer betrifft. Das habe ich am eigenen Leib erfahren müssen. Ein Opfer, dass sich nicht schweigend zurückzieht, sondern das nachdenkt, da hebe ich auf unsere politischen Forderungen ab, erntet alles andere als Verständnis und Unterstützung. Aber auf der anderen Seite denke ich, dass Prävention nur wirksam sein kann, wenn wir die jungen Menschen ansehen, die möglicherweise zu Tätern werden können. Wenn wir versuchen zu verstehen, was dazu führt, dass ein junger Mensch, der ja irgendwann geboren wurde und ganz normal mit anderen aufgewachsen ist, plötzlich zum Mörder an eben diesen jungen Menschen werden kann, dann müssen wir eben genau mit denen reden, die entweder schon nach außen gegangen sind und gedroht haben oder in Versuchung stehen das zu tun. Wo man wahrnehmen kann, dass hier etwas ganz schief läuft. Wenn wir uns nicht mit ihnen beschäftigen und nicht versuchen zu verstehen, was da passiert, dann werden wir mit Prävention keinen Schritt weiterkommen. 

Ihr Versuch ist aus beiden Seiten Menschen zu machen, die sich gegenseitig verstehen können? 

Mayer: Ja, dazu versuche ich meinen Beitrag zu leisten. Nicht Abwehr, Urteil und Strafe, sondern das Verstehen für die Not des jeweils anderen sind Wege, die ich gehen möchte.