Foto: Mr. Nico/photocase
Louise dreht sich, wenn sie Stress hat, um sich zu beruhigen. Sie war ein Frühchen und hat bis heute mit den Folgen zu kämpfen.
Sie war ein Frühchen
Auch noch in der Pubertät können sich die Folgen einer frühen Geburt auswirken
Inklusion ist oft nur eine Worthülse. Wenn es um die Integration von schwachen Kindern in die Regelschule geht, dann gilt das besonders. Ehemals frühgeborene Kinder gehören nicht selten zu diesen schwachen Kindern, die einfach mit ihren Problemen alleingelassen werden. Weil zu wenig bekannt und akzeptiert ist, dass sie oftmals mehr Fürsorge und Aufmerksamkeit bräuchten.

Louise dreht sich, wenn sie Stress hat. Das beruhigt sie. Sie hat es sich angewöhnt, als sie noch ganz klein war und gerade laufen konnte. Sie ist wie ein Derwisch, wenn sie sich dreht; statt des Rocks fliegen allerdings ihre offenen, langen blonden Haare um sie herum. Es wird mir schwindelig beim Zusehen. Minutenlang dreht sie sich in eine Richtung. 20 Minuten, 30 Minuten und dann bleibt sie stehen, schaltet den Mp3-Player aus. Schaut auf ihre knallrot lackierten Nägel. "Die muss ich jetzt mal neu machen", sagt sie und verschwindet in ihrem Badezimmer. Eine Psychologin hat den Eltern erzählt, dass das Drehen Louise hilft, sich im Raum zu orientieren, dass es sie erdet.

Louise ist 16 Jahre alt und benimmt sich, wie man es von einem pubertierenden Mädchen erwartet. Ihr Aussehen ist ihr wichtig, ihre Freunde auch, die Schule weniger. Doch mit der Schule gibt es bei ihr wirklich ein Problem. Als sie klein war, war sie eine witzige, fordernde, vorlaute Person. Sie war immer mittendrin im Geschehen, in der Familie. Doch mit Eintritt in die Schule ist ihr das Lachen Stück für Stück vergangen. Schon in der Grundschule fingen die Probleme an, Mathematik war das größte.

Die Normalität der ersten Lebensjahre

Louise war ein Frühchen. Sie wurde in der 28. Schwangerschaftswoche geboren. Eine Schwangerschaft soll eigentlich 40 Wochen dauern. Die Verzweiflung und Angst um Louises Leben war groß, die Dankbarkeit über ihr Überleben ebenso, die Gefühle so fordernd, dass die Eltern dankbar waren für die Normalität, die ihnen die ersten Lebensjahre von Louise bescherten. Louise hatte sich normal entwickelt. Sie war zwar lange zarter und kleiner, doch sonst schien sie fit. Sie lernte schnell sprechen, imitierte früh die Erwachsenen.

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Den Eltern war das Thema der zu frühen Geburt zwischenzeitlich abhanden gekommen. Als Louise immer mehr an der Schule verzweifelt, fängt die viel zu frühe Geburt aber wieder an, ihr Leben zu bestimmen, das ihrer Eltern und ihr eigenes. Und das, obwohl die Eltern alles probieren: Nachhilfe schon in der Grundschule, Lerntherapie, Ergotherapeut, Psychologe. Ihre Eltern fragen sich: Liegt es daran, dass sie so früh geboren ist, dass sie nun diese Probleme hat, in der Schule mitzuhalten? Louise hat Dyskalkulie, eine Mathematikschwäche.

Unter frühgeborenen Kindern häufen sich solche Teilleistungsschwächen wie Legasthenie und Dyskalkulie. Das hat die hannoversche Frühgeborenen-Langzeitstudie nachweisen können. Ärzte und Psychologen im Kinderkrankenhaus Auf der Bult in Hannover untersuchen die Frühgeborenen, die Teil der Studie sind, bis zu ihrem zehnten Lebensjahr. Und sie empfehlen, frühgeborene Kinder flächendeckend langfristig zu beobachten. Denn ihr unreifes Gehirn und ihr manchmal unreifer Körper stellen die Kleinen vor große Herausforderungen.

"Ich bin behindert"

"Das Wissen über Langfrist-Folgen einer frühen Geburt ist vorhanden", sagt Psychologe Michael Wachtendorf, der an der Hannoveraner Studie beteiligt ist. Doch es würde oft nicht von denjenigen abgerufen, die es wissen müssten: Dazu gehören sowohl Kinderärzte, Psychologen, Therapeuten als auch Lehrer. Probleme, die eine zu frühe Geburt im Nachgang auslösen, werden unterbelichtet wahrgenommen. So sieht es auch der Bundesverband für das frühgeborene Kind, der schon seit 20 Jahren versucht, über das Thema aufzuklären.

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An deutschen Regelschulen ist es kein Alltag, dass auf Kinder mit Schwächen Rücksicht genommen wird. Dass Eltern offen mit Lehrern über die Situation ihrer Kinder sprechen können und dann noch Verständnis und Hilfe bekommen, ist sicherlich noch seltener. Dafür gibt es schlichtweg keine Ressourcen an dem meisten Schulen. "Frühgeborene haben ein geringeres Selbstbewusstsein und eine geringere Belastbarkeit als Gleichaltrige", das hat zum Beispiel das Thomas-Mann-Gymnasium in Lübeck festgestellt, das einen Arbeitskreis "Frühgeborene und Schule" gegründet hat. Kinder, die den Sprung aufs Gymnasium schaffen, werden auf dieser Schule besonders betreut.

Louise hatte nicht das Glück an eine solche Schule zu geraten. Sie kam zwar gut durch die Grundschule, doch auf der weiterführenden Schule geriet sie in einen Strudel aus frustrierenden Erfahrungen und Versagensängsten. "Ich bin zu dumm", schrie sie nicht nur einmal, "ich bin behindert", weinte sie wütend. Der Vergleich mit den Mitschülern fiel selten bis nie gut aus. Louise blieb sitzen. Als sie ein weiteres Mal beinahe nicht das Klassenziel erreichte, meldeten ihre Eltern sie auf einer Privatschule an. Die Eltern hoffen, dass Louise dort ihren Realschulabschluss schafft. Die Klassen sind kleiner, es gibt Rückzugsorte zum Lernen.

Häufige Probleme von Frühchen sind motorische Defizite und Störungen im sozialen Bereich. "Es gibt Forschungen, die zeigen, dass das Gehirn von Frühchen nicht so entwickelt ist, wie es sein sollte", sagt Katharina Eglin vom Verband das Frühgeborene Kind. Und auch Psychologe Michael Wachtendorf bestätigt, dass sich bei Frühgeborenen die Diagnose ADHS häuft. Das bedeutet, dass Reize ungefiltert auf die Betroffenen einprasseln und sie oft nur schwer in der Lage sind, Informationen zu priorisieren.

Bei Louise äußerte sich genau diese Schwäche schon früh. Doch erkannt haben das die Ergotherapeuten und Psychologen, die die Eltern befragten, nicht. Sie gaben immer nur die Antwort: "Ihr Kind ist einfach nur blockiert, das wird schon." Doch es wurde eben nicht. Sprachen die Eltern die Frühchen-Problematik an, liefen sie jahrelang gegen Wände. Bis heute haben sie eigentlich niemanden gefunden, der ihre Zweifel und Ängste bestätigen oder zerstreuen kann.

Meistens verlässt sie den Raum

Psychologe Michael Wachtendorf hofft, dass Initiativen wie die der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften frühgeborenen Kindern und ihren Eltern auf Dauer bessere Entwicklungs-Chancen ermöglichen können. Im Laufe des Jahres 2013 will die Fachgesellschaft eine Leitlinie herausgeben, die eine medizinische Begleitung der Kinder bis ins Schulalter empfiehlt. Den Eltern sollen außerdem Informationen mitgegeben werden, wie sich Frühgeborene entwickeln können. "Wobei man hier immer nur von Wahrscheinlichkeiten sprechen kann, weil die Entwicklung von Frühgeborenen Kindern sehr unterschiedlich sein kann", sagt Michael Wachtendorf.

Von vollkommen normal bis hin zu stark beeinträchtigt sei alles möglich. "Wichtig wird sein, dass die Eltern bei Fragen sowohl ein offenes Ohr beim Kinderarzt finden, sich aber auch an die Spezialisten wenden können. Auch im höheren Alter der Kinder." Eine institutionalisierte Betreuung der Kinder hält der Psychologe außerdem für wünschenswert, denn die wichtigste Erkenntnis des Forschungsprojekts bisher: der Intelligenzquotient der Kinder hängt von der Bildung der Mutter ab. Sprich: Je mehr sich Eltern für ihr Kind engagieren können, umso bessere Chancen hat es, dass es gesellschaftlich bestehen kann. Für Frühchen aus bildungsfernen Schichten ist dieses Ergebnis ein massives Problem.

Louises größte Probleme sind, dass sie wenig Vertrauen in sich selbst hat und dass sie sich in größeren Gruppen schon immer schlecht konzentrieren konnte. Reden viele Leute durcheinander, dann schaltet sie einfach ab. In der Schule fatal. Im privaten Umfeld verlässt sie dann meistens den Raum - und dreht sich.

Dieser Text wurde zum ersten Mal am 14. Dezember 2012 veröffentlicht.