Der Streit um das Streikrecht in Kirche und Diakonie führt nicht weiter. Das Bundesarbeitsgericht hätte am 20. November auch entscheiden können, den Kirchen die Entwicklung eines ihnen gemäßen Streikrechts aufzuerlegen und so einen Ausgleich der grundgesetzlich verbürgten Autonomie der Kirche und des ebenso verankerten Streikrechts zu gewährleisten. Dann hätten die Gewerkschaften klar gewonnen. Aber das ist nicht geschehen. Im Gegenteil! Streiks dürfen in Zukunft weiterhin verboten sein, wenn die Kirchen bestimmten Regeln in ihrer Arbeitsrechtsgestaltung nachkommen. Dass ein Streikverbot per se rechtswidrig ist kann folglich in Zukunft nicht mehr behauptet werden. Ein für das Selbstverständnis der DGB – Gewerkschaften fundamentales Recht wurde relativiert. Das ist das eine.
Das andere ist: Die Autonomie der Kirchen bleibt nach dem Urteil ebenfalls nicht unangetastet. Wenn sie in Zukunft Streiks ausschließen wollen müssen sie sehr viel deutlicher als bisher Gewerkschafts- und Tarifrechte in ihren Verfahren der Lohnfindung und der Arbeitsvertragsgestaltung berücksichtigen. Die simple Rede davon, dass die Gewerkschaften ja jetzt schon jederzeit mitmachen könnten, wird nicht mehr reichen.
Es braucht nicht unerhebliche Reformen des kircheneigenen Dritten Weges, um eine Einladung an die Gewerkschaften zur Mitwirkung auch in einer gerichtlichen Überprüfung glaubwürdig erscheinen zu lassen. Aber sie können – im Prinzip – ein Streikrecht ausschließen und als funktionales Äquivalent zum Beispiel eine verbindliche Schlichtung vorsehen (etwas, was von Gewerkschaftsseite in der Regel als "Zwangsschlichtung" abgelehnt wird).
In festen Schützengräben verliert sich die Glaubwürdigkeit
Wer angesichts dieser Gemengelage auf Einigungen in absehbarer Zeit setzt, braucht viel Optimismus. Denn: Selbst bei vielen Zugeständnissen seitens der Kirchen werden die Gewerkschaften kaum auf das Streikrecht verzichten können. Das geht schon aus allgemeinen politischen Erwägungen nicht. Denn was würde geschehen, wenn nun auch andere Akteure den Regeln des Erfurter Urteils folgen und Streiks ausschließen wollen? Wahrscheinlich ist, dass nun aber Nicht -DGB-Gewerkschaften im Dritten Weg mitarbeiten (was ja auch jetzt schon der Fall ist). Ob das dann einer gerichtlichen Prüfung genügt, bleibt abzuwarten.
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Realistisch steht eine Art von Stellungskrieg bevor. Verdi wird zunächst weitere Streiks versuchen mit der verständlichen Begründung, dass der jetzt praktizierte Dritte Weg (nach Ansicht des BAG sei das ja sogar faktisch ein Erster Weg) nicht den Kriterien des Gerichts entspreche und Arbeitskämpfe deswegen in der Fläche nicht nur erlaubt, sondern sogar nötig seien. Die Kirchen werden das bestreiten und gegen Verdi klagen. Gleichzeitig werden sie Reformen in Gang setzen, die aber, da ihr Ziel der Ausschluss von Streiks bleibt, nach aller Wahrscheinlichkeit nicht zur Befriedigung der DGB-Gewerkschaften führen werden.
Die einen werden das Streikrecht so nicht bekommen, die anderen werden aber Streiks nicht los werden. Man verharrt in den Schützengräben und macht lediglich gelegentliche Ausfälle. Das Ganze wird auf beiden Seiten unendlich viel Kraft kosten, die man für Wichtigeres nutzen sollte. Was dabei mittelfristig auf der Strecke bleibt, ist leicht vorauszusagen: die Glaubwürdigkeit – und zwar beider Kontrahenten, der Kirche und der Gewerkschaften. Dass es beiden letztlich um die Menschen ginge, genau das, was ja beide verbindet, kann schon bald niemand mehr nachvollziehen.
Ein Flächentarifvertrag ist überfällig
Das Fazit ist: In dieser Aufstellung der Interessenlagen gibt es keine Lösung. Das bedeutet auch: Der Streit um das Streikrecht in Kirche und Diakonie ist nach dem Urteil auf absehbare Zeit nicht entscheidbar. Das werden viele vor allem auf Seiten der Gewerkschaft aus nachvollziehbaren Gründen nicht verstehen. Aber diese Schlussfolgerung ist unvermeidlich. Die Folgerung muss nun sein: Der gesamte Konflikt muss jetzt schnell auf eine andere Ebene gehoben werden. Eine, auf der es gemeinsame Interessen von Kirchen, Diakonie und Gewerkschaften gibt.
Und diese Ebene gibt es. Es ist das immer wieder bekundete gemeinsame Anliegen, das Tarifgefüge in den sozialen Diensten durch einen Branchen- und/oder Flächentarifvertrag zu stabilisieren, damit der politisch gewollte Wettbewerb zwischen den Anbietern sozialer Dienstleister nicht mehr auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird. So etwas ist überfällig!
Eine Regelung im Interesse der Menschen
Solch eine Regelung würde zu einem deutlichen Glaubwürdigkeitsgewinn beider Akteure führen, weil sie erkennbar im Interesse der Menschen wäre. Möglich ist solch eine Regelung, allerdings müssten die Gewerkschaften dafür in der einen oder anderen Weise - direkt oder zumindest indirekt - den Dritten Weg anerkennen. Und Kirche und Diakonie müssten sich verpflichten, in Zukunft tarifliche Regelungen zu übernehmen, die nicht nur in ihren eigenen Kommissionen zustande gekommen wären. Beide müssen über ihre Schatten springen.
Auf die Dauer könnte dieser Weg faktisch den alten Zuständen, als die Kirchen noch den anderswo ausgehandelten BAT übernahmen, wieder ähnlich werden. Damals hatten die Gewerkschaften mit dem Dritten Weg in Kirche und Diakonie deutlich weniger Probleme. Und es wäre auch ein Weg zu Re-Regulierung eines wichtigen Bereiches unseres Sozialstaates. Was es dafür braucht, sind Akteure mit Weitblick auf beiden Seiten, die sich über im Interesse des Ganzen vordergründige Interessen erheben können. Sie gibt es doch – oder? Und über das Streikrecht reden wir dann in ein paar Jahren noch einmal.