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Mit Laptop unter der Brücke
Digitale Außenseiter? Auch Obdachlose gehen ins Internet: Alte PCs kann man schließlich auch im Sperrmüll finden, kostenlos surfen auch in der Bibliothek. Auch viele Hilfseinrichtungen bieten inzwischen Internetzugang für ihre Besucher an. Vorzugsweise, damit sie nach Wohnungen und Jobs suchen. Einblicke in eine unbekannte Nutzergruppe.
05.12.2012
Miriam Bunjes

Ein Tag ohne Internet ist für Helmut Richard Brox ein verlorener Tag. Gerade hat er in seinen E-Mails den Hilferuf eines 20-Jährigen beantwortet: "Wo kann ich heute Nacht schlafen – und es werden keine Fragen gestellt, die ich nicht beantworten möchte? Und werde trotzdem nicht beklaut?" Brox kennt Antworten auf solche Fragen, schon lange. Seit 26 Jahren lebt der 48-Jährige auf der Straße. Notunterkünfte, Aufenthaltsräume, Wohnheime, Therapieprojekte – fast 900 Einrichtungen hat Brox auf sein Portal "ohne Wohnung – was nun" gestellt. "Alle habe ich selbst besucht und kann sie empfehlen", sagt Brox. Jeden Tag aktualisiert er seine Internetseiten, auch für die deutsche Suchthilfe hat er im November ein Portal entwickelt. Weil Obdachlosigkeit und Sucht oft miteinander zusammenhängen, ist er auch dort Experte.

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Brox bloggt (woundwie.blog.de und kurpfaelzer-wandersmann.de), schreibt auf Facebook, gibt Journalisten Interviews, kann Tag und Nacht auf seinem Handy angerufen werden. Seit 2007 bietet er diesen Service für diejenigen an, die in der gleichen Lage sind wie er – ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne Geld. Unentgeltlich. Dafür wurde er jetzt fürs Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen und für den deutschen Engagementpreis – als erster Obdachloser überhaupt. "Ich bin ein Lobbyist für die, die nichts haben", sagt Brox. "Dazu gehören gute Internetportale. Keiner soll irgendwo stehen und nicht wissen, wo es Hilfe gibt."

Einen eigenen Rechner hat er nicht, er geht ins Internetcafé, in Bibliotheken oder in Hilfseinrichtungen mit Internetzugang. Und aufwärmen kann er sich dabei auch. Täglich drei Online-Stunden braucht er, "es muss ja alles aktuell sein. Dafür gibt er etwa 60 Euro im Monat aus. "Für Domaingebühren und den Internetzugang, der ja manchmal was kostet." Das Geld bekommt er geschenkt, denn Einkommen hat er keins. "Ich hatte nie eine Arbeit. Nur Aufgaben, die mir wichtig sind." Auch Hartz IV bekommt er gerade nicht, er hat sich nicht behördlich gemeldet, hier "in der Nähe von Stuttgart", wo er gerade ist. "Morgen bin ich vielleicht schon wieder woanders, das weiß ich noch nicht", sagt Brox. "Für meine Homepage ist das ja egal."

"Wir leben in modernen Zeiten, das gilt für alle"

Eine Seite im Internet, für Menschen, über die die stetig wachsende deutsche Netzforschung so gut wie gar nichts weiß. Rund 1.000 Aufrufe hat sie pro Tag, die meisten in der linken Randspalte, dort wo die Adressen stehen. Adressen, die nur für die Ärmsten der Armen interessant sind, und die sie ganz offensichtlich im Netz abfragen. Seitenbetreiber Brox schätzt, dass jeder vierte Wohnungslose regelmäßig ins Internet geht. "Gar nicht wenige haben auch Laptops oder internetfähige Telefone", sagt er – es ist eben viel schwieriger, offline gute Informationen zu bekommen."

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Bei manchen waren die Geräte schon da, als der Weg in die Wohnungslosigkeit begann. Bei manchen kommen sie aus dem Müll, von Bekannten oder vom Gebrauchtwarenhändler. "Man kann sich ja dann einen Surfstick von Aldi holen", sagt Brox. "Oder man bestellt sich ein Getränk in einem Café, das W-Lan anbietet, geht in eine öffentliche Bibliothek, in eine Uni oder fragt in einer Hilfseinrichtung, ob man ins Netz gehen darf." Das Wissen darum sei für viele auf der Straße normal – und werde schließlich auch weitergegeben. "Es gibt Solidarität unter Obdachlosen, die will ich durch mein Internetangebot noch fördern", sagt Brox.

Geforscht wurde über diese Nutzergruppe noch nie. "Milliardäre und Obdachlose – das sind die Menschen, über die die Onlineforschung keine Daten hat", sagt Malthe Wolf, Projektleiter der größten deutschen Internetnutzungsstudie, die jährlich einen (N)onliner Atlas herausgibt. Die ersten wollen nicht befragt werden und die zweiten zu befragen, ist aufwändig – eben weil sie keinen festen Wohnsitz haben und womöglich kein Telefon oder Internet. Gut 30 Prozent der deutschen Bevölkerung stuft das Forschungsprojekt als "digitale Außenseiter" ein. Sie haben geringes Einkommen, wenig Bildung, in der Regel keine Arbeit – und nutzen das Internet nicht oder kaum. "Es liegt nahe, dass Wohnungslose dort einzuordnen sind", sagt der Kommunikationsforscher. Die digitale Spaltung der Gesellschaft, die sich aus diesen Zahlen ergibt, ist ein beliebtes Thema in Wissenschaft und Blogosphäre. Ihre Folgen: Der Informationsunterschied zwischen On- und Offliner eröffnet den einen neue Möglichkeiten und schließt die anderen davon aus.

Surfen im Wohnheim

Wohnungslose ohne Internetzugang werden noch weiter von der Mehrheitsgesellschaft abgehängt, zu der sie sowieso nicht gehören, glaubt Jan Orlt vom Westfälischen Herbergsverband, dem Fachverband der Wohnungslosenhilfe der Diakonie Rheinland Westfalen Lippe. "Für einen großen Teil wohnungsloser Menschen ist es allein aus materiellen Gründen schwierig oder unmöglich das Internet zu nutzen", sagt Orlt. "Es fehlt ja das Geld für einen Rechner und bei einigen sicher auch die Kompetenz, das Netz zu nutzen." Der Verband setzt sich dafür ein, das zu verbessern.

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"Es gibt schon jetzt Einrichtungen für Wohnungslose, die einen Internetzugang für die Besucher anbieten", erklärt Orlt. "Sie können dort nach Wohnungen und nach Jobs suchen, Informationen über Förderungen und Hilfen einsehen, die ihre Situation verbessern." Dafür will der Verband ein Portal entwickeln, das Informationen und Links für Nordrhein-Westfalen übersichtlich darstellt. Und hat einen Arbeitskreis ins Leben gerufen, in dem sich Einrichtungen über die Erfahrungen mit den Internetgängen ihrer Klienten austauschen können. "Wir wollen das Internet für unsere Klienten erobern."

In der Dortmunder Kesselstraße hat diese Eroberung schon vor fast 10 Jahren stattgefunden. Ein alter PC steht im ersten Stock des Brückentreffs, einem Café der Diakonie für Wohnungslose – mit Küche, Aufenthaltsräumen, Waschmaschine. "Die Möglichkeit, ins Netz zu gehen, ist genauso wichtig, wie seine Wäsche zu waschen oder zu duschen", findet Sozialarbeiter Reinhard Stobbe-Somberg. "Ein Grundbedürfnis." Wie dieses Bedürfnis idealerweise erfüllt werden soll, hängt an der Wand "Benutzer, die Wohnungen oder Arbeit suchen, haben Vorrang", steht auf einem Computerausdruck. Darüber in Rot: "Internetnutzung: 30 Minuten."

Viele Besucher spielen nämlich auch gerne Spiele auf dem PC. "Wir haben mit uns gerungen, dass wir das überhaupt zulassen. Wir haben hier ja auch Spielsüchtige, die dadurch in soziale Schwierigkeiten gekommen sind", sagt Stobbe-Somberg. Eigentlich soll Nützliches im Netz getan werden, jedenfalls in erster Linie. "Die Besucher können ihre Behördengänge vorbereiten, damit sie nicht stundenlang in den Fluren des Arbeits- oder Sozialamtes auf ein Formular warten, das auch im Netz steht", sagt der Sozialarbeiter. Und auch die Wohnungssuche läuft im Netz einfach besser. "Es gibt dort deutlich mehr Wohnungen und auch auf Jobbörsen findet man oft eher etwas Passendes als beim Amt."

Endlich sesshaft werden

Bei der Recherche unterstützt er manche Besucher. Netzunkundige sind aber auch hier eine Ausnahme. "Die meisten finden sich gut zurecht, weil sie damit aufgewachsen sind oder es früher beruflich genutzt haben", sagt Stobbe-Somberg. Freie Wohnungen gibt es hier in Dortmund ebenfalls genug, die meisten Besucher im Dortmunder Brückentreff haben ein Dach über dem Kopf und schlafen nicht unter der Brücke. Dass sie in der Wohnung bleiben können, ist aber unsicher. Und die Zustände in den Wohnungen sind manchmal katastrophal: Schimmel, kaputte Fenster, keine funktionierende Anschlüsse – "überdachte Wohnungslosigkeit" nennt der Dortmunder Sozialarbeiter das.

"Wer einen Schufa-Eintrag hat oder Mietschulden, sitzt schnell ganz auf der Straße und findet auch nur schwer etwas Neues." Ohne Netzzugang? "Das geht doch gar nicht mehr und es ist auch wichtig, dass die Leute das selbstständig tun können." Wohnungen und Jobs finden – und dann bürgerlich leben. Für viele Wohnungslose ist der Weg dahin lang. Und nicht alle können ihn gehen.

Der wohnungslose Onliner Helmut Richard Brox hat jetzt Arbeit angeboten bekommen, ohne sie zu suchen. Internetarbeit. Die gleiche, die er seit Jahren macht – weil er sie wichtig findet. Die Deutsche Orden Ordenswerke, die Brox mit Adressen bei seinem Suchthilfeportal unterstützt hat, haben ihm ein Angebot gemacht. "Sie haben mir ein Gehalt angeboten und eine Wohnung. Als Administrator für das Suchthilfeportal." Das ist das erste Mal, dass er von seiner Arbeit finanziell profitieren könnte. "Aufregend", findet er das. Weil er von einem Überfall im Park schwere Rückenschäden behalten hat, will er "sowieso wohl irgendwann sesshaft werden", sagt Brox. "Im Netz bleibe ich dann aber natürlich auch."