Frau Professor Führer, ein Kind ist unheilbar erkrankt und die Familie möchte das Kind nach Hause holen und dort pflegen. Geht das hier in Deutschland so einfach und was muss in dieser Situation alles bedacht werden? Was kommt auf die Familie zu?
Frau Professor Führer: Das ist tatsächlich in aller Regel der größte Wunsch der Familien und deswegen haben wir auch schon 2004 unser Projekt "HOMe – Hospiz ohne Mauern" in München gegründet, dass auch diesen Wunsch im Namen trägt. Es gibt auch noch andere Projekte in Deutschland. Zum Teil wurden diese aus onkologischen Stationen, also für krebskranke Kinder, heraus entwickelt. Später hat man sehr deutlich gesehen, dass Kinder mit angeborenen Erkrankungen wie Stoffwechselerkrankungen oder neurologischen Erkrankungen noch viel häufiger betroffen von lebenserschwerenden und –begrenzenden Erkrankungen sind. Also alles ganz unterschiedliche Krankheiten, die häufig bei Erwachsenen gar nicht vorkommen.
Bild links: Monika Führer, Foto: Klinikum der Universität München Und da sind die Eltern natürlich auch in einer Situation, wo sie große Angst davor haben mit all dem was auf sie zukommt: an Symptomen, an benötigter Pflege, Umgang mit dem Kind und dass sie damit allein dastehen. Es ist physisch und psychisch unglaublich anstrengend, so ein Kind zu pflegen. Aber die Hauptsorge ist auch, was kann da noch alles kommen, worauf müssen wir uns einstellen? Was die Eltern der Familien dann brauchen, ist wirklich ein Netz an Helfern, das genau auf die Bedürfnisse der Familie und Kinder gerichtet ist.
###mehr-links###Beim Stichwort "Palliativmedizin" denken die meisten an die medizinisch-pflegerische Betreuung von Patienten. Dabei ist diese nur ein Teil davon. Was gehört denn noch zu diesem "Netz"?
Führer: Aus unserer Erfahrung ist das vor allem auch die psychosoziale Betreuung. Ganz viele Menschen denken mit dem Blick auf schwere Krankheit, Sterben und Tod als erstes an den Schmerz und davor fürchten sie sich. Eltern möchten auf keinen Fall, dass ihre Kinder Schmerzen oder anderen Symptomen erfahren wie Atemnot, Erbrechen oder auch – und da geht es jetzt in einen anderen Bereich – Schlafstörungen. Auch Unruhezustände gibt es häufig, die oft schwer zu interpretieren sind, gerade wenn es Kinder sind, die sich nicht mehr gut ausdrücken können oder kaum noch Kontakt aufnehmen. Dann wird es irgendwann immer schwieriger die Bedürfnisse der Kinder zu verstehen.
"Die Eltern brauchen die Sicherheit, dass sie jemand begleitet"
Da beginnt dann auch der andere Teil: Nämlich dass die Eltern neben der Unterstützung in der Pflege und durch den Arzt auch diese Sicherheit brauchen, dass sie jemand begleitet und ihnen hilft, ihr Kind zu verstehen und ihnen hilft, den Weg auch selber mit diesem Kind zu gehen. Vieles hängt daran: Die Beziehung zueinander, die Paarbeziehung zwischen den Eltern, aber auch zu den Geschwistern. Wie erklärt man zum Beispiel den Geschwistern eine schwere Krankheit? Wie geht man mit den Reaktionen der Umwelt um, den Großeltern oder auch mit Freunden?
Auch das Finanzielle spielt eine Rolle. Viele Familien haben auch wesentliche finanzielle Probleme, weil eine Krankheit oft auch über Monate und Jahre geht.
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Zu ihrem Team gehören dementsprechend Kinderärztinnen wie Sozialpädagoginnen und Seelsorgerinnen. Wie kann man sich bei Ihnen die Zusammenarbeit zwischen diesen Bereichen vorstellen?
Führer: Wir haben zweimal die Woche eine oft relativ lange Teambesprechung, wo wir wirklich jedes Kind besprechen und zwar mit Blick auf die ganz individuellen Probleme. Die Frage ist immer: Worunter leiden die Kinder oder auch die Angehörigen? Also immer auch die Frage: wer leidet gerade am meisten? Das muss nicht unbedingt das Kind sein, dass kann durchaus auch die Mutter sein oder mal die Pflegekräfte, für die es auch schwierig werden kann, wenn sie so nah dran sind an einem Kind. Es dreht sich also immer um die Fragen, wer leidet und wie kann man dieses Leid verringern, so dass wieder Lebensqualität für alle Beteiligten da ist.
Es ist extrem wichtig, dass wir im Team mit unserer Sozialarbeiterin, unserer Seelsorgerin, unseren Psychologen und Psychotherapeuten zusammenarbeiten, denn die verändern auch unseren Blick auf die Familien. Die helfen uns ganz entscheidend, die Familien besser zu verstehen. Manchmal sehen sie auch Leiden und Schwierigkeiten, die wir so gar nicht wahrnehmen oder auch nicht erzählt bekommen.
"Den Menschen als Ganzes wahrzunehmen geht nur im Team"
Auch die spirituelle Betreuung, die nicht konfessionsgebunden ist, ist wichtig. Unsere evangelische Seelsorgerin bekommt zum Beispiel von einer muslimischen Patientin ihre Ängste und Nöte erzählt, die ich als Ärztin gar nicht erfahre und plötzlich stellt sich heraus, dass wir ihr mit unserer Schmerztherapie nicht gut helfen können. Das hat auch manchmal mit ganz anderem Leiden zu tun als nur mit dem körperlichen. Den Menschen als Ganzes wahrzunehmen, das geht nur in so einem Team, das können wir als Ärzte und Pflegende nicht allein.
Was sind denn die häufigsten Ängste zum einen der betroffenen Kinder und zum anderen auch der Familienangehörigen? Wie begegnen Sie diesen Ängsten?
Führer: Bei den Kindern kommt es sehr aufs Alter an. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Kinder ihrem Körper sehr nahe sind. Sie spüren sehr gut, was sich verändert, wenn sie schwächer werden, manches nicht mehr möglich ist. Und gleichzeitig leben kleinere Kinder sehr im Augenblick. Die genießen noch jeden Moment, können aber auch ganz unvermittelt fragen "Muss ich sterben?". Das sind schwierige Fragen für die Eltern. Wir versuchen die Eltern natürlich darauf vorzubereiten. Man muss den Kindern auch nichts aufzwingen, aber wenn sie danach fragen, dann haben auch Eltern nach dem Tod ihres Kindes bestätigt, wie wichtig es für sie wahr, ehrlich mit ihrem Kind darüber zu sprechen. Auch zu erfahren, welche Gedanken sich die Kinder gemacht haben. Oft erfährt man dann sogar tröstliche Vorstellungen von den Kindern.
"Mit den Gefühlen kommt man gar nicht nach"
Bei den Eltern spielt die Ungewissheit eine ganz große Rolle. Viele haben noch nie jemanden sterben gesehen, auch noch nie einen Toten gesehen, geschweige denn das eigene Kind begleitet. Das ist etwas, was man sich überhaupt nicht vorstellen kann. Wir erleben immer wieder, dass man das zwar rein intellektuell verstanden haben kann. Aber darunter gibt es eine Ebene, wo man mit den Gefühlen gar nicht nachkommt. Das ist ein wichtiger Punkt! Diese Schritte, wo es allen langsam bewusst wird, begleiten wir. Die Fragen "Was bedeutet das? Was kann sein? Was wird kommen? Wird mein Kind ersticken, wird es verbluten?" können wir meistens auch sehr gut beantworten. Auch weil wir viel dafür tun können, dass das nicht eintritt.
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Ab 2013 soll Palliativmedizin zum Pflichtfach im Medizinstudium werden. Warum erst jetzt?
Führer: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, die Bevölkerung geht wohl davon aus, dass das längst zur Ausbildung von Ärzten dazugehört. Aber erst 2009 wurde durchgesetzt, dass es ein Pflicht-, Lehr- und Prüfungsfach ist. Die Universitäten hatten dann Zeit, das umzusetzen, so dass es jetzt erst ab dem Wintersemester tatsächlich Inhalt ist für alle Universitäten und alle Studierenden. Viele Universitäten haben aber noch gar keinen Lehrstuhl für Palliativmedizin.
Die Verankerung der Palliativmedizin in der akademischen Medizin ist bisher nur zum Teil gelungen. Da haben wir hier in Deutschland noch einen deutlichen Aufholbedarf zum Beispiel im Vergleich mit angelsächsischen Ländern zu bewältigen.
Aber warum war die Palliativmedizin bis jetzt nicht ausreichend integriert?
Führer: Es gibt durchaus Berührungsängste der modernen Medizin. Und da muss man wirklich sagen, der modernen Medizin, denn der Auftrag des Arztes war ursprünglich immer schon neben dem Heilen auch das Lindern und das Begleiten und Trösten. Das ist ein uralter Auftrag der ein bisschen aus dem Fokus verschwunden ist, auch über die berechtige Begeisterung, was die moderne Medizin und auch die Intensiv- und Transplantationsmedizin alles möglich gemacht hat.
"Die Bevölkerung hat wahrgenommen, da werden Menschen allein gelassen"
Vor allem auch in Deutschland gab es viele Berührungsängste. Das hat sich aber verändert, auch in der Haltung der Bevölkerung, die wieder diesen Auftrag an die Medizin gegeben haben. Die Hospizbewegung ist eine bürgerschaftliche Bewegung, ausgehend von Menschen, die irgendwann wahrgenommen haben, da gibt's ein Vakuum, da gibt's niemanden der sich wirklich kümmert, da werden Menschen allein gelassen auf ihrem letzten Weg.
Wie viele Kinder haben Sie bisher betreut? Wie haben Sie die Familien, bei denen die Kinder zu Hause sterben konnten, erlebt – auch vielleicht im Gegensatz zu denen, deren Kinder auf Intensivstationen starben?
Führer: Wir haben über 300 Kinder bisher betreut. Der größte Teil von ihnen ist auch tatsächlich zu Hause gestorben. Ich bin immer etwas vorsichtig, dass als allein möglichen guten Ort zu nehmen. Es gibt einfach Kinder für die das Krankenhaus ein sicherer Ort ist, die sich da geborgen fühlen. Und für Eltern ist es auch ein ganz furchtbares Gefühl, wenn man denkt, jetzt haben wir es nicht geschafft, dass das Kind zu Hause gestorben ist.
"Man muss auch noch im Sterben alles richtig machen? Das kann nicht das Ziel sein"
Da sind wir dann in der besten Tradition unserer Leistungsgesellschaft: Man muss auch noch am Ende und im Sterben alles richtig machen. Das kann nicht das Ziel sein. Der beste Ort ist, wo für Kinder und Eltern die größte Sicherheit ist und wo sie sich am wohlsten fühlen. Dass das meistens zu Hause ist, leuchtet ein. Wir haben auch einmal nachgeschaut: Bei Kindern zwischen 1 und 16 Jahren ist das mit einer Palliativ-Versorgung auch bei über 90 Prozent möglich.
Trotzdem sehen wir immer wieder, dass eine gute Palliativstation auch bei guter häuslicher Versorgung immer mal wieder gebraucht wird, wenn etwa die Symptome zu belastend und die Medikamente noch nicht gut eingestellt sind. Oder auch wenn die Erschöpfung zu groß ist und die Eltern diesen Hort der Sicherheit brauchen, um dann gestärkt und mit einem Kind, dass wieder weniger leidet, zurück nach Hause zu gehen. Deswegen werden wir auch voraussichtlich nächstes Jahr eine Kinderpalliativ-Station hier im Klinikum in München aufmachen.