"Erst in Ostashkin habe ich alle Gefühle durchlebt, die ich als kleiner Junge nicht aussprechen konnte und durfte", sagt David. Er hat kaum Erinnerungen an seinen Vater, der als junger Mann im CVJM im ostwestfälischen Nordhemmern turnte und im Posaunenchor spielte. Bei den Jugendabenden im Dorf lernte Friedrich David seine spätere Frau Lina kennen, 1935 heiratete das Paar und bewirtschaftete einen Bauernhof in Südhemmern bei Hille.
Werner, der jüngere von zwei Söhnen, ist gerade anderthalb Jahre, als sein Vater im Dezember 1940 zum Kriegsdienst einberufen wird. Seine Einheit wird in Belgien und Nordfrankreich eingesetzt, wo der Landwirt mit vier oder sechs Pferden eine Feldhaubitze ziehen muss. Ab und zu darf er im Urlaub nach Hause - so auch Anfang Dezember 1942, als Nachrichten von der Einkesselung der deutschen Wehrmacht in Stalingrad die Menschen beunruhigen.
Ein letzter Choral auf dem Flügelhorn
Friedrich David muss deshalb zurück zu seiner Einheit. Die Eltern fürchten, dass es nach Russland geht. "Unruhe und unausgesprochene Angst bestimmten die Atmosphäre", erinnert sich Sohn Werner. Hektisch habe die Familie einen Fotografen in Minden aufgesucht, um sich zusammen ablichten zu lassen: Der Vater in Uniform, Mutter im Sonntagskleid, die Jungen zwischen den Eltern. Der Tag des Abschieds prägte sich dem damals Dreijährigen tief ein: Der Vater verließ hastig das Haus, "aber nicht ohne zuvor auf seinem Flügelhorn einen Choral zu spielen".
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Von der Front schreibt Friedrich David viele liebe- und sorgenvolle Briefe an seine Frau Lina. Ortsangaben darf er nicht machen, doch aus Poststempeln geht hervor, dass er über Sachsen und Schlesien tatsächlich nach Osten fährt. Die schlimmen Erlebnisse vor Ort deutet er in einem Brief vom 1. Weihnachtstag 1942 an: "Der Mensch muss doch allerhand durchmachen. Wenn man das bedenkt, so könnten die lebenden Kameraden die Toten beneiden."
Der christliche Glaube hält Friedrich David aufrecht. "Ich habe die feste Zuversicht, dass ich gesund wiederkomme. Möge mir der himmlische Vater gnädig sein", schreibt er in seinem letzten Brief, datiert vom 10. Januar 1943. Zu der Zeit ist seine Einheit etwa 200 Kilometer nordöstlich der Stadt Rostow am Don. Sie soll bei minus 40 Grad den Vormarsch der Roten Armee nach Westen stoppen helfen. Wenige Tage später gerät der Truppenverband bei Ostashkin unter schweren Beschuss. Seitdem gilt Friedrich David, damals 32 Jahre alt, als vermisst "zwischen Donez und Don in der Steppe".
Ein Herz aus Blumen in der südrussischen Erde
"Wo es use Vatte?" - Anders als mit dieser plattdeutschen Frage kann der kleine Werner die Angst um den geliebten Vater nicht ausdrücken, Trost erfährt er kaum. Das Schicksal teilt er mit vielen anderen. "Die Hälfte der Kinder hatte keinen Vater, das war sozusagen normal und wurde nicht thematisiert."
Als ihm seine Mutter, inzwischen hochbetagt, die Briefe aus dem Krieg zeigt, beginnt er selbst in Archiven und im Internet zu recherchieren, um anhand von Karten und Gefechtsberichten den Weg des Vaters im Weltkrieg nachzuzeichnen. Als Werner David am 14. September 2012 das verlassene südrussische Dorf Ostashkin erreicht, schließt sich für ihn der Kreis. "Die große innere Unruhe legte sich", sagt David.
Den letzten Brief der Mutter an ihren Ehemann, der ihn 1943 nicht mehr erreichte und zurückgeschickt wurde, hat der 73-Jährige in der Steppe vergraben. Er säte ein Herz aus Blumen in die russische Erde, nahm einen Erlenschössling und ein Wermutpflänzchen mit zurück nach Westfalen. "Wo es use Vatte?" - die Frage des Dreijährigen ist 70 Jahre danach beantwortet.