Sie sind dicke Freunde geworden: Amelie, "Rosachen" und "Hoppel". Mit rosa Gummistiefeln, Zwergenmütze und Regenhose bekleidet, sucht die fünfjährige Amelie nach saftigen Löwenzahnblättern für die Kaninchen. Minutenlang steht das Mädchen vor der Stalltür. Beobachtet. Brummelt. Füttert. "Sie liebt die Hasen", sagt Erzieherin Hannah Danner. "Sie spricht mit ihnen und fühlt sich bei ihnen wohl."
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Amelie ist fünf Jahre alt, ihre Lieblingsfarben sind rosa, lila und blau, sie liebt es zu singen und zu tanzen und mag die Lach- und Sachgeschichten der "Sendung mit der Maus". Ihre braunen, glatten Haare trägt das Mädchen zu langen Zöpfen gebunden mit einem hübschen modischen Pony über der Stirn.
"Für uns ist Amelie nicht krank, sondern sie hat einfach eine genetische Besonderheit und ein Chromosom zu viel", sagt Mutter Annett und gibt ihr einen Kuss. "Krankheit", das sei irgendwie im Zusammenhang mit Amelie ein komisches Wort, findet auch Vater Markus "Krank ist für uns, wenn sie Fieber hat."
Seit knapp zwei Monaten ist Amelie Teil der neu eröffneten integrativen Bauernhofkita in Achberg-Baind (Westallgäu). Betrieben wird die Kita vom Verein "Mit Pferden stark machen". An fünf Tagen pro Woche geht Amelie jeweils von acht bis dreizehn Uhr in die naturpädagogische Einrichtung, die in einem umgebauten Ponystall ein Zuhause gefunden hat. Die "Wühlmäuse"-Gruppe umfasst derzeit zehn Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren, bis 2013 sollen es 20 Kinder werden.
Kleine, integrative Gruppe
Für Amelies Eltern war wichtig: Es sollte eine kleine integrative Einrichtung sein. "Mit wenigen Kinder, damit Amelie sich nicht verloren fühlt", sagt Annett. Im Reitstall des Vereins "Mit Pferden stark machen" nebenan, in dem Amelie jede Woche "spielerisch reiten lernt", erfuhr die Familie von der Kita. "Das Konzept hat uns sofort überzeugt", sagt Markus.
Amelie gehört selbstverständlich zur Gruppe. Foto: Hanna Spengler
Amelie ist das einzige Kind mit Beeinträchtigung in der Bauernhof-Kindergartengruppe. Ein vierjähriger Junge, auch mit Down-Syndrom, soll im nächsten Jahr zu den "Wühlmäusen" hinzukommen. Wie Markus ergänzt, soll Amelie schon bald eine Integrationshilfe bekommen. "Auf diese Leistung hat sie mit Pflegestufe I Anspruch."
Durch das integrative Konzept der Kita kann Amelie unheimlich viel von den anderen Kindern lernen", sagt Annett. "Zum Beispiel, wie man mit einem Bobbycar Roller fährt", ergänzt Markus schmunzelnd. Schon vor der Bauernhof-Kita habe Amelie eine integrative Spielgruppe besucht, erklärt ihre Mutter. "Für sie ist das normal. Sie kennt es gar nicht anders."
Gummistiefeln, Regenhosen, Hasen füttern
Ein Mittwochmorgen in der Bauernhof-Kita: Amelie fegt mit den anderen "Wühlmäusen" durch den Raum. Sie spielt Katze. Legt sich eingerollt auf eine Decke. Schnurrt. Dann geht sie zum Regal am Fenster, greift ein Puzzle-Spiel heraus und setzt sich an einen Tisch. Eine halbe Stunden später ruft Erzieherin Danner die Kinder zum Morgenkreis.
"Wer möchte nochmal den St. Martin spielen?" fragt die die pädagogische Leitung der Kita in den Sitzkreis. "Amelie", sagt Amelie und stellt sich selbstbewusst in die Mitte. Auf ihrem Kopf trägt das Mädchen nun einen goldenen Helm und ein Schwert in der Hand. Zum Gesang der Kinder dreht sie sich langsam um ihre eigene Achse. Alle singen: "St. Martin war ein guter Mann". Amelie tippelt weiter, singt und strahlt.
Es ist Mittagszeit in der Bauernhofkita Achberg. Die Tiere der Einrichtung warten auf ihr Essen. Freudestrahlend laufen die zehn "Wühlmäuse" in ihren Gummistiefeln und regenfesten Hosen den matschigen Weg zu den Ställen der Schweine, Hasen und Ziegen entlang. Amelie läuft wie selbstverständlich in der Gruppe mit. "Amelie", ruft Kindergartenkind Noel, wenn sie nicht schnell genug reagiert. Amelie wird von der vorurteilsfreien Stimmung der Kita-Gruppe getragen. Akzeptiert. Sie ist eine Wühlmaus. Manchmal nur etwas ruhiger und zögerlicher, manchmal ängstlicher und wütender als andere.
Vertrauen und Verantwortung lernen
Zur Bauernhof-Kita gehören zwei Schafe, sechs kleine Hasen, die Shetland-Ponys "Rosalie" und "Jacky" und die drei Microschweine "Pumpa", "Fienchen" und "Pünktchen". Die Gehege der Tiere sind auf dem Spielplatz der Kita mit Schaukel, Seilbahn und Wasserspielen integriert. Amelie nähert sich den Tieren mit Respekt und Interesse. "Sie stürmt im Gegensatz zu den anderen Kindern ehr nicht sofort ins Gehege und kann sich manchmal wiederrum schlechter von den Tieren lösen", sagt Danner.
Amelie beim Hasenfüttern. Foto: Hanna Spengler
Die Bauernhof-Kita hat wie andere Regelkindergärten einen Gruppenraum, in dem sich die Kinder morgens treffen. Einen großen Teil ihrer Zeit verbringen die Kinder aber in der Natur. Sie füttern die Tiere, gehen in den Stall oder verbringen Zeit im Kräutergarten. "So lernt Amelie Vertrauen zu Tieren aufzubauen und Verantwortung zu übernehmen", sagt Danner und erzählt von der Apfel-Projektwoche, in der die "Wühlmäuse" Äpfel sammelten und daraus selbstgemachten Apfelsaft und Apfelmus pressen lernten.
"Amelie ist jemand ganz Besonderes und gerade mit ihrer Einschränkung für die Gruppe eine Bereicherung", schwärmt Danner. "Die Kinder merken eigentlich gar nicht, dass sie eine Beeinträchtigung hat." Amelie spiele viel alleine in der Kuschelecke, sei aber bei Gruppenspielen "absolut integriert". "Die Amelie geht sehr offen auf die anderen Kinder zu", sagt Danner. Und sie lerne, dass es den anderen auch mal zu viel wird, lernt im Spiel ihre Grenzen kennen, "und die anderen üben sich in Geduld".
Ängste, Zweifel - und schöne Momente
Rückblick am Esstisch bei Familie Laps. Annett erzählt. Sie ist 40 Jahre alt und bereits Mutter des 12-jährigen Maximilian, als sie mit Amelie schwanger wird. Zwischen der 11. und 13. Schwangerschaftswoche erfahren sie und ihr Mann Markus bei einer Nackenfaltenmessung, dass ihr Kind mit einem Down-Syndrom auf die Welt kommen würde. Auf dem Ultraschall-Bild sind ein ausgeprägtes Stupsnäschen und verkürzte Oberschenkel zu sehen. "Für uns damals erst gar nicht erkennbar", erinnert sich Markus.
Es folgen damals Tage des Schweigens. Tränen. Intensive Gespräche. "Ich musste erstmal durchschnaufen", sagt Annet. "Dann habe ich mich sehr viel mit dem Down-Syndrom beschäftigt." Markus hatte bereits während seines Zivildienstes viele positive Erfahrungen mit geistig behinderten Erwachsenen gemacht. Letztlich hätte dann nur noch die Vorfreude überwogen: "Wir bekommen ein Mädchen! Unsere Amelie!"
"Es gibt sicherlich Situationen, wo man denkt, man hätte es mit einem gesunden Kind leichter", sagt Markus. Amelies Sturheit sorge in der Öffentlichkeit häufig für Wirbel und Aufmerksamkeit: "Das geht an die Substanz." Er erzählt von Ängsten und den Zweifeln, wie es wohl wird, wenn Amelie größer wird, man sie nicht mehr so leicht auf den Arm nehmen kann. "Aber die vielen schönen Momente, die wir mit Amelie erleben dürfen, sind so bereichernd, dass es nicht in Worte zu fassen ist." Er strahlt.
"Man wird eigentlich nie direkt auf das Down-Syndrom angesprochen"
Wenn Amelie in der Kita lacht, wirkt das auf andere ansteckend. Jeder um sie herum bekommt ihr Lachen mit. Aber auch ihren Zorn. "Nein", sagt Amelie, als der kleine Ermal dazukommt. Dann nochmal vehement: "Nein!" Amelie behält Dinge gern für sich. Zum Beispiel die Eisenbahn-Lok in der Bauecke. Das "N-Wort" kommt häufig über Amelies Lippen. Es scheint, als sei das kleine Wort ihre Verbindung und Grenze zur Außenwelt. "Nein", sagt Amelie auch zu Johannes. Die Kinder in der Gruppe reagieren nicht sauer. Sie wissen: Das Wort gehört zu Amelie. Es ist Amelies Wort. Es hat viele Bedeutungen.
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Probleme, in der Öffentlichkeit zu ihrer behinderten Tochter zu stehen, haben Annett und Markus nicht. "Amelie ist was Besonderes, das kann ich auch zeigen", betont Markus, für den Amelie das erste Kind ist, stolz. Kommen Fragen von anderen Eltern? "Eigentlich nie", sagt Markus. "Man wird eigentlich nie direkt auf das Down-Syndrom angesprochen", bestätigt seine Frau. Gibt es Neidgefühle gegenüber den Eltern mit gesunden Kindern? "Nein, gar nicht", antwortet Annett. "Nur häufig Erschöpfungsgefühle, weil die Betreuung von Amelie ab und zu auch viel Kraft kostet." Manchmal sei auch Angst dabei, weil "wir nicht wissen, was noch kommt, ob sie weiterhin Spielkameraden findet, die sie so akzeptieren, wie die Kinder jetzt."
Es ist 17:30 Uhr. Abendbrotzeit. "Klare Strukturen sind für Amelie wichtig", sagt Markus. Amelie taucht ihre Zunge in ihren Karottensaft. Leckend versucht sie die Flüssigkeit aus dem Glas zu bekommen. "Sie spielt mal wieder die Katze", erklärt Annett lachend und fordert Amelie auf, noch ein kleines Stück vom Butterbrot zu essen, das sie vor sich auf dem Teller hat. Unvermittelt umarmt Amelie ihre Mutter. Dann will sie wieder zurück auf den Boden und schleicht auf allen vieren als Katze durchs Wohnzimmer. "Miau", sagt sie fröhlich. Und lacht.