"Wir saßen an den Wassern zu Babel und weinten, wenn wir an Zion dachten. Tochter Babel du Zerstörerin, wohl dem, der dir heimzahlt, was du uns getan. Wohl dem, der deine Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert." Er sei nach dem Vertonen dieses Klagelieds der Juden aus dem Psalm 137 so erschöpft gewesen, hat der Komponist Jörg Widmann erzählt, dass er krank geworden sei.
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Er habe einen 17-stimmigen Kontrapunkt in den Chorstimmen gehabt und ein 70-fach geteiltes Orchester, das sich immer mehr steigere. "Dieser ungeheure Punkt erschütterte mich als Komponist zutiefst." Zu den von ihm geschaffenen Extremen in der Sintflut-Szene merkte er an, sie hätten ihn praktisch paralysiert: "Ich war wie gelähmt, lag tagelang bewegungslos im Bett."
Diese Confessio eines nicht einmal 40-jährigen Musikers macht vielleicht stärker als jeder überstrapazierte Superlativ eines bewusst: Die Oper "Babylon", ein Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper, ist von anderer Energie und Qualität als ein beliebiges zeitgenössisches Werk des Musiktheaters. Ist diesen doch (mit wenigen Ausnahmen) verwehrt, es dauerhaft in das Repertoire der Bühnen zu schaffen. Zu bestaunen ist vielmehr ein Standardwerk der Opern ab 2030, ein epochales Stück, das den Anspruch des Genres Oper auch im fünften Jahrhundert seines Bestehens auf Geltung und Zukunft, auf Erneuerung und Erweiterung mit Wucht untermauert.
Die "Mutter Babylon" als Wiege der Zivilisation
Das frühgeschichtliche Babylon ist Name und Chiffre der Metropole des Zweistromlandes am Unterlauf von Euphrat und Tigris unter sumerischen und assyrischen Herrschern. Biblisch belegt ist es als Schauplatz einer 50 Jahre umfassenden Gefangenschaft der Juden - jene Phase, in der nun die Oper spielt. Im christlichen und jüdischen Kulturkreis galt und gilt es weithin heute noch als Negativmythos, als Inbegriff von Verfall, Dekadenz und Unmoral. Unter dem Synonym "Hure Babylon" wird die Stadt mit der Sünde schlechthin gleichgesetzt. "Sündhaft" war das Projekt eines Turmbaus, der sich in des Himmels Höhen schwingen wollte. Diese Hybris ahndeten die Götter, indem sie der Legende nach die Babylonier mit der Geißel der Vielsprachigkeit bestraften. Kommunikationslosigkeit und sprachliche Barrieren – ein Verhängnis bis heute.
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Widmann und Sloterdijk vermitteln eine differenzierte Sicht. "Mutter Babylon" kreieren sie als Wiege der modernen Zivilisation – eine Vorstellung, die durch Ausgrabungen seit Ende des 19. Jahrhunderts auf Initiative führender deutscher Archäologen gestützt wird. Zwar breiten sie - kongenial in expressiver Musik und Sprache - all die Schrecknisse aus, die die alte Geschichte Babylons ausmachen. Der Euphrat steigt über die Ufer und richtet Verwüstungen an. Erst recht vernichtet die Sintflut wie ein göttlicher Megafuror alles Lebende. Meteoriten schlagen bedrohlich ein. Doch erschöpfen sich die Autoren keineswegs in der Reprise der Mythen von Zerstörung und Tod. Thanatos und Eros treten ebenbürtig auf, Verwüstung und Erlösung werden manifest. Dialektisch ist der rote Faden dieser so jungen alten Geschichte.
Im Zentrum des Geschehens: Inanna und Tammu, alias Inanna und Dumuzi in der Nomenklatur der sumerischen Götter, in der Mythologie der Oper von Monteverdi bis Mozart besser bekannt als Orpheus und Eurydike. Ihre Geschichte von Liebe und Aufopferung entfaltet sich in einer vorantiken "Wissensgesellschaft", die mit der Erfindung wesentlicher Errungenschaften der Menschheit verknüpft ist. Genannt seien nur die Schrift, die Architektur, die Sieben-Tage-Woche, das Rad, die Bürokratie und soziale Normen im Zeichen von Respekt und Koexistenz, die aus der Utopie der friedlichen Koexistenz Wirklichkeit geformt haben, zum Glück für viele bis heute. Die Untertitel in Keilschrift, die zu Beginn der Aufführung das Münchner Publikum irritierten, entpuppen sich so als eine wundervolle heutige Referenz gegenüber den babylonischen "Vätern" der modernen Zivilisation.
Tosende Bildwelten, bombastische Musik, schwierige Konzentration
Die "sieben Bilder" sind eine hinreißende Verführung für Bühnenbild, Ausstattung und Dekoration. Carlus Padrizza hat mit seinem Regieteam bizarre Stadtmauern, Material- und Menschenlandschaften auf die Bühne gezaubert: Chorsänger, die mit Buchstabenkleidern den Euphrat darstellen, Statisten, die abwechselnd Planeten, archetypische Krieger oder riesige Phalli und andere erotische Symbole verkörpern. Und natürlich stürzt der Turm krachend in sich zusammen.
Der Spirit von La fura del Baus, dieser die Bühnen der Welt erobernden Theatertruppe, lebt hier grandios auf. Die eigentliche Magie erfährt die Inszenierung indes durch die multimedialen Elemente der involvierten Video- und Designteams. Ihre Installationen – Video, Film, Computeranimation – verwandeln einen klassischen Bühnenraum phasenweise in eine 3D-Welt. Es kann, möchte man sich ausmalen, nur noch eine Frage der Zeit sein, bis James Cameron die Stoffe des Musiktheaters für seine Arbeit entdeckt.
Die Multimedialität des Münchner Opernwunders – Dialektik auch hier – ist freilich zugleich seine Kalamität. Die tosenden Bildwelten, die sich immer wieder unisono mit der rauschhaften bombastischen Musik Widmanns über die Protagonisten auf Thronen oder in der Sklaverei ergießen, erschweren häufig die Konzentration auf die Worte, mithin die Arbeit Sloterdijks. Den Kulturphilosophen hatte sich der Komponist gezielt als Partner für "mein Lebensprojekt" erwählt, "weil ich in seiner Sprache immer etwas ungeheuer Kraftvolles und auch Unmäßiges, Tabuloses, Wucherndes entdeckt habe, wenn man so will auch Babylonisches". So sei an dieser Stelle wenigstens die Botschaft "des Kindes" gegen Ende der Apokalypse festgehalten: "Ihr Völker lernt gefährlich leben. Baut Häuser, die schwimmen, baut Städte, die schweben." Nennen wir sie neubabylonisch-aktuell, so weise und weitgreifend wie das Ganze dieses künstlerischen Wurfs.