Justin weint. Es ist ein unzufriedenes, frustriertes Weinen, eines, das immer wieder erschöpft abebbt, um dann von Neuem und umso lauter zu beginnen. Zehn Minuten geht das schon so, doch Saskia lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie hat den Jungen an die Schulter gelegt und wiegt ihn behutsam auf und ab. "Das ist die Quengelphase", sagt sie. "Das Baby will jetzt einfach nur meine Nähe spüren."
Saskia ist 16 Jahre alt, sie ist Schülerin einer Bremer Sekundarschule. Seit wenigen Stunden dreht sich ihr Leben nicht mehr um Mathematik oder Englisch, sondern um Justin. Der Säugling ist allerdings ist nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Plastik. In seinem Bauch befindet sich ein Computer, der dafür sorgt, dass er sich wie ein echtes Baby verhält.
Eltern auf Probe
Acht Mädchen und ein Junge zwischen 14 und 16 Jahren nehmen an dem Schulprojekt "Babybedenkzeit" teil, einem Kooperationsprojekt des Bremer Zentrums für Jugend- und Erwachsenenhilfe e.V., kurz Kriz genannt, und des Bremer Amtes für Soziale Dienste. Vier Tage lang erleben sie, was es bedeutet, schon als Teenager Mutter oder Vater zu sein.
Die Jugendlichen sitzen in der Schulbibliothek. Die Mädchen haben sich eine Tochter gewünscht. Fabian (im Bild links, Foto: Sascha Montag) wollte lieber einen Sohn. Er ist der einzige Probevater in der Gruppe und er "will mal wissen, wie das so ist, Vater zu sein". Doch wie im wahren Leben, lässt sich nicht festlegen, ob man ein Junge oder ein Mädchen bekommt und der Zufall bestimmt welche Babysimulatoren von Iris Schöning und Jörg Vollmich an die Jugendlichen ausgehändigt werden.
Fläschchen gegeben - und nun?
Die beiden Sozialpädagogen führen die Schülerinnen und den Schüler durch die Woche und sind in dieser Zeit Ratgeber und Seelsorger zugleich. Seit acht Jahren leiten die beiden das ungewöhnliche Projekt, das von einer Kollegin aus den USA nach Deutschland gebracht wurde.
In der Bibliothek ist es inzwischen unruhig geworden. Nachdem sich die frisch gebackenen Mütter und der junge Vater an ihre Kinder gewöhnt, ihnen das erste Fläschchen gegeben und die Windeln gewechselt haben, beginnen die Kleinen wieder an zu schreien und die Ratlosigkeit unter den Jugendlichen wächst: Muss ich die Windeln wechseln? Hat er wieder Hunger? Wie halte ich das Köpfchen, damit der empfindliche Nacken geschützt ist?
Iris Schöning gibt geduldig Hilfestellungen. Als erstes, erklärt sie, müssen die Jugendlichen sich beim Babysimulator zu erkennen geben – mit einem Computerchip, den sie an einem Band am Handgelenk tragen und der sie als Vater oder Mutter auf Probe ausweist. Danach erst reagiert ihr Baby auf Wiegen, Füttern oder Windel wechseln.
Schlafmangel und Erschöpfung
Dienstagmorgen: Die erste Nacht hat bei fast allen Jugendlichen Spuren hinterlassen. Die Frisuren sitzen nicht mehr so perfekt wie am Tag zuvor, einigen sieht man den Schlafmangel an ihren dunklen Augenringen an. Manche mussten ihr Kind dreimal in der Nacht beruhigen.
###mehr-artikel###Auch Fatou ist erschöpft. Immer wieder fläzt sie sich auf einen Sitzsack und wirft sich ein Tuch über Stirn und Augen, um ein wenig auszuruhen. Ihre Tochter Lamina hat sie achtlos in den Tragekorb gelegt. Die Kleine schreit, weil sie Hunger hat. Fatou baut schnell aus der Decke eine Halterung für die Flasche, damit sie das Kind nicht selbst füttern muss.
Auch das Armband trägt sie nicht mehr. "Das ist abgefallen", sagt sie unschuldig. Später erzählt sie, sie habe es abgerissen, weil sie abends feiern wollte – es war der Geburtstag von Justin Bieber, einem Pop-Sänger. Ihre Mutter kümmerte sich derweil um den Babysimulator. "Das ist halt kein echtes Baby", sagt Fatou. "Das kann man gar nicht ernst nehmen."
Der Traum von heiler Familienwelt
Saskia würde ein solcher Satz nie über die Lippen kommen. Sie umarmt ihren Justin liebevoll. "Ich fand die erste Nacht gar nicht schlimm", sagt sie. Sie sei Härteres gewohnt, vom Babysitten bei einer befreundeten Familie. Gedankenverloren zupft sie am winzigen Ringelpulli ihres Ziehsohnes, der farblich perfekt zum Oberteil der Mama passt, die gestern mit der eigenen Mutter extra neue Babyklamotten eingekauft hat.
Schon mit 15 träumte Saskia von einer eigenen kleinen Familie. "Mein Freund und ich haben da viel drüber geredet", sagt sie. Gemeinsam malten sie sich ihre Zukunft aus, aneinander gekuschelt an romantischen Sommerabenden am Strand. Als sie immer mehr Stress mit der Mutter bekam, nur noch weg wollte von zuhause, drohte sie sogar damit, schwanger zu werden, um endlich in eine eigene Wohnung ziehen zu können. Die Pille hatte sie schon abgesetzt. "Mein Freund fand das aber nicht so lustig", sagt sie verlegen und enttäuscht zugleich. "Also hab ich wieder mit der Verhütung angefangen."
###mehr-links###Ein paar Stunden später, am Nachmittag. Saskia liegt auf dem Bett in ihrem Zimmer. Der Babysimulator liegt neben ihr, hin und wieder streichelt sie sanft den Bauch der Puppe. Ihr Blick wirkt abwesend, traurig. Von ihrer Mutter fühlt sie sich nicht wirklich ernst genommen, die Beziehung zu ihrem Freund kriselt. Auch mit den Mädchen in ihrer Klasse kommt Saskia nicht besonders gut zurecht. Weil sie die achte Klasse wiederholen musste, ist Saskia ein Jahr älter als die anderen. "Die sind noch so kindisch", sagt sie.
Pläne für die Zukunft hat sie keine. Nur diese Sehnsucht, dieses tiefe Verlangen nach einem Kind. "Ein Baby ist einfach jemand, der immer da ist, der mich liebt, ohne Fragen zu stellen", sagt sie. Sätze wie diese hört Iris Schöning oft. Neben ihrer Arbeit bei Babybedenkzeit kümmert sie sich in einem Mutter-Kind-Haus um jugendliche Mütter, kennt ihre Geschichten und Träume. "Man muss solche Sehnsüchte ernst nehmen" sagt sie. "Aber auch darauf hin abklopfen, ob nicht etwas anderes dahinter steckt." Der Wunsch nach Geborgenheit etwa, oder danach, als junger Erwachsener respektiert zu werden.
Windeln wechseln im Bus - "voll peinlich"
Zwei Tage später treffen Schöning, Vollmich und die Jugendlichen wieder zusammen. Ein Tag ohne Betreuung liegt hinter Saskia, Fatou und den anderen. Sie sind an diesem Tag in kleinen Gruppen durch die Stadt gezogen, um junge Eltern nach ihren Erfahrungen zu befragen. Einige der Mädchen nutzten die Gelegenheit, um in einem großen Einkaufszentrum durch die Geschäfte zu stromern. Es hätte ein toller Tag werden können – wenn nur nicht die Babys immer wieder ihre Zuwendung eingefordert hätten. "Ich musste im Bus die Windeln wechseln", erzählt Fatou. "Das war voll peinlich".
(Bild links: Saskia, 16 Jahre alt, mit ihrem Babysimulator Justin in der Schule. Foto: Sascha Montag) Auch mit den verächtlichen Blicken und Kommentaren der Erwachsenen hätten sie nicht gerechnet. "Kinder wie ihr sollten keine Babys haben", rief eine ältere Frau einem Mädchen hinterher, andere wurden erst versöhnlich, als sie erkannten, dass im Kinderwagen nur eine Puppe lag und die Teenager erklärten, dass sie an einem Schulprojekt teilnehmen.
Am letzten Tag der Projektwoche ist die Stimmung gereizt, auf Fragen erhalten Iris Schöning und Jörg Vollmich meist nur einsilbige Antworten. Drei Nächte mit wenig Schlaf liegen hinter ihnen. Die meisten haben ihre Babys achtlos auf die Tische oder in die Kinderwagen gelegt, Wimmern oder Weinen wird mit genervtem Augenrollen und leisem Fluchen quittiert. Viele erzählen, dass sie in den letzten Tagen immer lustloser wurden und dass Kleinigkeiten sie auf die Palme brachten.
Bloß kein Kind mit 15
"Ich hätte nicht gedacht, dass das Projekt so anstrengend wird", sagt Fatou. Eigentlich mag sie Kinder, sie will später Erzieherin werden. "Aber mit 15 ein Baby kriegen, das wär' voll Scheiße", sagt sie und springt begeistert auf, als Iris Schöning fragt, wer als erstes von seinen Elternpflichten entbunden werden wolle.
Saskia hingegen ist im Laufe des Vormittags immer stiller geworden. Leicht in sich gekehrt und zusammengesunken klammert sie sich an ihren Babysimulator – und beginnt zu weinen, als sie ihn abgeben soll. "Ich will ihn behalten", wimmert sie leise, bietet sogar Geld, um den Babysimulator übers Wochenende wieder mit nach Hause nehmen zu dürfen. Iris Schöning nimmt sie zur Seite, sie reden lange. Am Ende vereinbaren sie, weiterhin miteinander in Kontakt zu bleiben, um zu ergründen, wie Saskia am Besten mit ihrem Babywunsch umgehen kann. Justin jedoch kommt mit den anderen Babys wieder in die Obhut der Sozialpädagogen. Er wird bald woanders gebraucht.