Foto: dpa/Arno Burgi
Wladimir Kaminer, scharfäugiger Beobachter des Alltags, empört sich über das Urteil gegen die russische Punkband Pussy Riot.
Kaminer: "Die Kirche ist ein Teil des Staates geworden"
Der Schriftsteller Wladimir Kaminer empört sich über das Moskauer Urteil gegen Pussy Riot. Bis zuletzt rechnete er mit einem Freispruch, nach dem Urteil rechnet er mit Staat und Kirche ab - und hofft auf mehr Menschlichkeit, auch in der russischen Kirche.
17.08.2012
evangelisch.de

Herr Kaminer, zwei Jahre Haft: Was sagen Sie zu dem Urteil gegen Pussy Riot?

Wladimir Kaminer: Ich bin sehr verärgert. Ich habe bis zum letzten Moment geglaubt, dass sie noch freigesprochen werden. Das wäre für den Staat und die Kirche noch die letzte Gelegenheit gewesen, ihr Gesicht zu wahren, ein Stückchen Menschlichkeit zu bewahren. Es ist nicht Aufgabe der Kirche, Bürger hinter Gitter zu bringen, und auch nicht Aufgabe des Staates. Die Frauen von Pussy Riot haben anscheinend den wunden Punkt dieser Theokratie getroffen und die Verschmelzung zwischen Staat und Kirche offen gelegt.

###mehr-personen###

Der Prozess ist weltweit verfolgt worden. War die mediale Aufmerksamkeit berechtigt?

Kaminer: Die Menschen haben gesehen, wovor dieser Staat Angst hat: vor singenden Mädchen. Nicht vor der Finanzkrise, nicht vor der politischen Opposition, sondern vor singenden Mädchen. Dieser Prozess hat wie kein anderer die Bevölkerung in Russland gespalten, auch die christliche Öffentlichkeit. Es kam vieles zu Vorschein – vor allem, dass es Menschen gibt, die ihr Christentum als eine Staatsreligion, als Gesetzgebung verstehen und beim Christentum überhaupt nicht an Menschenliebe, Zusammenhalt und Solidarität denken. Sondern an Stille und Ordnung. Das ist aus meiner Sicht die falsche Sicht.

###mehr-artikel###

Ist die Verschmelzung zwischen Staat und Kirche in Russland wirklich so stark?

Kaminer: Früher in der Sowjetunion bekam jeder Künstler, der einen Jesus malte, Besuch von der Polizei, die seine Bilder beschlagnahmte. Heute ist es genau umgekehrt: Die Kirche ist ein Teil des Staates geworden. Jeder Künstler, der eine Ausstellung mit christlichen Motiven macht, muss damit rechnen, dass bärtige Männer mit Äxten kommen und seine Ausstellung zerschlagen.

Was passiert jetzt nach dem Urteil? Wird es mehr Proteste gegen die Verbindung von Staat und Kirche geben?

Kaminer: Im Grunde müsste die Kirche das, was durch den Turbokapitalismus kaputtgegangen ist, wiederherstellen. Sie muss die Schöpfung wahren. Stattdessen spielt die russische Kirche die Rolle eines Ordnungshüters. Ich glaube, dass dieser Prozess mit dem unsäglich heftigen Urteil einen Stein ins Rollen gebracht hat, der die Position der russischen Kirche schwächen wird. Der Prozess gegen Pussy Riot war ein Weckruf für die Gesellschaft. Ich hoffe, dass er mehr Kräfte in der christlichen Gesellschaft weckt, die sich für die Menschen und die Menschlicheit einsetzen.