Flucht vor einem Amokläufer
photocase/Krockenmitte
"Man muss versuchen, den Amokläufer zu irritieren"
Was tun, wenn man einem unkontrollierten Gewalttäter gegenübersteht?
Im Interview mit evangelisch.de erklärt der Amok-Experte und Gewaltdeeskalations-Trainer Heinz Kraft, wie man sich am besten aus Amok-Situationen befreit.
25.07.2016
Linda Matthey

Herr Kraft, angenommen, ich bin am Bahnhof oder in einem Einkaufszentrum, und plötzlich steht ein Amokschütze vor mir. Was muss ich tun?

Heinz Kraft: Abhauen. Denn ein bewegliches Ziel ist schlechter zu treffen als ein statisches. Umso weiter man weg ist, um so mehr Zeit braucht der Täter, um anzusetzen und zu zielen. Zeit, in der ich wiederum noch weiter weg fliehen kann. Man muss bedenken, dass der Täter ja auch unter Stress steht. Zum gezielten Schießen braucht er aber höchste Konzentration. Wenn wir weglaufen, erhöhen wir also seinen Stress und die Chance, dass er Fehler macht und daneben schießt. Bewegen heißt Leben. Den größten Fehler, den man machen kann, ist, die Arme hochzuheben oder sich auf den Boden zu legen. Dann braucht der Amokschütze ja wirklich nur noch abzuknallen.

Sollte man mit dem Amokläufer reden und versuchen, ihn von der Tat abzubringen?

Kraft: Das hat leider keinen Sinn. Dieser Mensch hat sich wochenlang auf die Tat vorbereitet. Er ist sie gedanklich in allen Einzelheiten durchgegangen, hat die Bilder vom Amoklauf schon im Kopf und will sie unbedingt umsetzen. Das einzige Argument, das für einen Dialog mit dem Attentäter spricht, ist, dass man so sein Mitteilungsbedürfnis ausnutzen könnte. Wenn man ihn dazu bewegt, zu erklären, warum er Amok läuft, gewinnen alle anderen Zeit, um zu flüchten, während er redet. Allerdings hat er seine Motive in der Regel schon in Abschiedsbriefen oder im Internet dargelegt. Somit ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass er einfach sagt: "Halt die Klappe!" und kurzerhand schießt.

"Irritation des Täters bringt wichtige Sekunden"

Was wäre das optimale Verhalten, wenn man einen Amokläufer bemerkt?

Kraft: Sich so zu verstecken, dass man den Täter noch im Blick behalten kann. Dann die Polizei anzurufen und genaue Angaben über sein Verhalten und seinen Standort durchzugeben. So können die Einsatzkräfte den Amokschützen viel schneller außer Gefecht setzen.

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Was kann man tun, wenn man in die Ecke gedrängt ist?

Kraft: In einer solchen Situation muss man versuchen, den Amokläufer zu irritieren. Man könnte ihm beispielsweise Sand in die Augen werfen oder irgendeinen Gegenstand, den man griffbereit hat, gegen den Kopf schmeißen. Denn dann muss sich der Täter erst einmal selbst verteidigen, und ich gewinne Zeit. Und wenn es nur drei Sekunden sind. Die könnten mich schon zwölf Meter weiter bringen und seine Chancen, mich zu treffen, minimieren. Eine andere Methode ist, etwas zu sagen, das völlig paradox ist. Man könnte beispielsweise an einem Dienstag behaupten: "Heute ist Mittwoch und mittwochs wird nicht geschossen." Darüber muss der Täter erst einmal nachdenken und vielleicht sagt er sogar: "Nein, heute ist Dienstag." Der Täter kommt auf jeden Fall aus dem Konzept und braucht eine gewisse Zeit, um wieder zu seinem Tatplan zurückzukommen.

Aber dann wird er vermutlich trotzdem schießen, oder?

Kraft: Das stimmt. Aber das hätte er sowieso getan. Dafür hat man den anderen Menschen in der Umgebung zehn Sekunden Zeit geschenkt, abzuhauen. Für sich selbst kann man in dieser Situation meist leider ohnehin nicht mehr viel tun.

"Alle Verstecke sind gut, an denen man möglichst allein ist"

Ist es empfehlenswert, sich vor einem Amokläufer zu verstecken? Oder macht man sich dann nicht erst recht zu einem unbeweglichen Ziel?

Kraft: Das Schreckliche ist, dass man natürlich immer Pech haben und entdeckt werden kann. Prinzipiell kann man allerdings sagen, dass die Täter sich in der Regel nicht die Mühe machen, beispielsweise jede Toilettenkabine abzuklappern, um ein vereinzeltes potenzielles Opfer zu finden. Also sind alle Verstecke gut, an denen man möglichst allein ist.

Angenommen, man sieht von einem Versteck aus einen Verletzen. Der Täter ist aber noch in der Nähe. Sollte man helfen?

Kraft: Nein. Diesem automatischen Hilfsimpuls, den wir haben, sollte man nicht nachgeben. Denn man verbessert die Situation ja nicht. Im Zweifel macht man sich nur selbst zur Zielscheibe des Täters. Den Opfern kann erst dann geholfen werden, wenn der Täter außer Gefecht gesetzt ist. Ich weiß, dass das einem emotional massiv widerstrebt. Aber Amokläufe sind absolute Ausnahmesituationen, in denen die klassischen Normen und Wertvorstellungen nicht mehr gelten.

"Das Schlimmste ist, wenn alle in eine Schockstarre verfallen"

Sollte man versuchen, den Täter außer Gefecht zu setzen?

Kraft: Wir Menschen haben in solchen Situationen zwei Triebe, den zur Flucht und den zum Angriff. Prinzipiell ist es in solch einer Situation richtig, unserem Fluchtinstinkt zu folgen. Wenn aber eine Flucht nur schwer möglich ist, weil alle in einem Raum sitzen und der Amokläufer die Tür versperrt, kann es durchaus auch Sinn machen, anzugreifen. Wichtig wäre, dass einer die Führung übernimmt und etwas ruft, wie: "Alle auf ihn drauf!". Damit reißt er die anderen aus ihrer Schockstarre und gibt ihnen den klaren Impuls zu handeln.

Glauben Sie, wir sind in Deutschland gut genug für Amokläufe gewappnet?

Kraft: Nein. Zwar ist die Polizei mittlerweile extrem gut vorbereitet, und auch in Schulen werden Notfallpläne entwickelt und Kurse durchgeführt. Aber selbst dort merke ich immer wieder, dass Lehrer mit der konkreten Situation dann doch überfordert wären. Sie haben oft zum Beispiel keine Idee, welche Anweisung sie den Schülern geben sollen, wenn der Amokläufer schon im Raum steht. Außerdem können Amokläufe theoretisch überall stattfinden, nicht nur in Schulen. Das Schlimmste ist, wenn alle in eine Schockstarre verfallen. Jemand, der für eine Amoklage trainiert hat, braucht nur noch ungefähr 0,8 Sekunden, um handeln zu können. Gerade deshalb ist es so unfassbar wichtig, dass wir vorbereitet sind und uns gedanklich mal auf eine solche Situation eingelassen haben.