Herr Ilkiliç, Sie sind als erster muslimischer Wissenschaftler seit April dieses Jahres Mitglied des Deutschen Ethikrats. Wie wird man das?
Ilhan Ilkiliç: Ich wurde wie jedes Mitglied vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert berufen. Die Hälfte der Mitglieder wird von der Regierung bestimmt, wozu ich auch gehöre. Die anderen Mitglieder werden von den Parteien des Bundestags vorgeschlagen.
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Ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht, ist eine Frage, über die hierzulande ja heftig diskutiert wird. Wie ist in diesem Zusammenhang die Ernennung eines muslimischen Vertreters in dieses Gremium zu deuten?
Ilkiliç: Zunächst möchte ich betonen, dass ich kein offizieller Vertreter der Muslime im Deutschen Ethikrat bin. Ich sehe meine Aufgabe vielmehr darin, dass ich mit meinen Kompetenzen die muslimischen Wertvorstellungen und Werthaltungen in die ethischen Diskussionen einbringe und ihnen im Ethikrat Gehör verschaffe. Die künstlich hergestellte Dichotomie zwischen Islam und Muslimen ist nicht nachvollziehbar. Es ist genauso absurd, wenn man versucht, Christen oder Juden ohne Christentum beziehungsweise Judentum zu verstehen.
Man soll aber fragen, wenn man über den Islam spricht, was man sich darunter vorstellt: Geht es um den Islam, der in manchen Köpfen von vornerein negativ konnotiert ist und bei dessen Entstehung die Medien nicht immer eine neutrale - geschweige denn positive - Rolle gespielt haben? Oder geht es viel mehr darum, was die Muslime darunter verstehen? In einem Zeitalter der Freiheit und Autonomie muss man auch den Muslimen erlauben, ihre Religion selbst zu definieren und zu beschreiben.
"Wenn es eine evangelische Ethik gibt, gibt es auch eine islamische Ethik"
Gibt es überhaupt eine islamische Ethik?
Ilkiliç: Kommt darauf an, was man unter islamischer Ethik versteht. Wenn es eine evangelische Ethik gibt, gibt es auch eine islamische Ethik. Ethik als eine philosophische Reflexionswissenschaft im Bereich der Moral muss nicht unbedingt religiös geprägt sein. Es ist aber durchaus möglich, mit den Dynamiken und Methoden der islamischen Geistestradition über die moralphilosophischen Fragestellungen nachzudenken und zu reflektieren.
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Was sind die ethischen Grundsätze im Islam?
Ilkiliç: Der Koran und die Sunna (d.h. die Tradition und Aussprüche des Propheten Muhammed) gelten als die Grundlagen der islamischen Moral bzw. Ethik. Es gibt auch weitere Quellen und Methoden wie Igma (Konsens der Gelehrten) und Qiyas (Analogieschluss), die bei der ethischen Bewertung moralischer Fragen angewandt werden.
Woraus leiten sich diese Grundlagen ab?
Ilkiliç: Einige Entscheidungsmethoden hinsichtlich der moralischen Fragen wurden relativ früh in der islamischen Geistesgeschichte entwickelt. Diese Entscheidungsweisen sind eher kasuistisch, das heißt, man berücksichtigt dabei Empfehlungen des Korans und des Propheten Muhammed und leitet daraus ethisch vertretbare Handlungen ab.
Und welche Position lassen sich daraus in Bezug auf Präimplantationsdiagnostik und Abtreibung ableiten?
Ilkiliç: Wenn es nur um Präimplantationsdiagnostik (PID) als bloße Diagnosemethode geht, so gibt es aus der islamischen Perspektive keine Einwände. Ist mit einer PID das Töten des als krank diagnostizierten Embryos verbunden, so sieht die Diskussionslage anders aus. Es gibt in der innerislamischen Diskussion die Position, die eine PID verbunden mit der Selektion der kranken Embryonen akzeptiert. Genauso existiert die ethische Sichtweise, die eine Krankheit nicht als einen ausreichenden Grund für eine Embryonenselektion sieht. In der Diskussion wird die letzte Position immer gewichtiger.
"Passive Sterbehilfe nach islamischem Glauben ist unter bestimmten Voraussetzungen vertretbar"
Wie steht es um Sterbehilfe? Ist sie nach islamischer Ethik legitim?
Ilkiliç: Die aktive Sterbehilfe, in der es um das gezielte Töten einer Person auf seinen freiwilligen Wunsch hin geht, wird im Islam einheitlich und kategorisch abgelehnt. Denn nur Gott gibt das Leben und nur er darf es nehmen. Dagegen wird die passive Sterbehilfe, wo es vielmehr darum geht, jemandem das Sterben zu erlauben, unterschiedlich bewertet.
Eine Position zweifelt an dem Unterschied zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe und lehnt beide ab. Eine andere Position erklärt jedoch eine passive Sterbehilfe nach islamischem Glauben unter bestimmten Voraussetzungen für vertretbar. Die Voraussetzungen dafür sind die Einwilligung des Patienten bzw. der Familie und die Klarstellung, dass die medizinischen Maßnahmen nur der Verschiebung des Todeseintritts dienen und nicht der Heilung.
Seit Wochen wird in Deutschland über religiös motiverte Beschneidung diskutiert. Dazu gibt es sehr abweichende Meinungen, unter anderem die, dass ausschlaggebend die "körperliche Unversehrtheit" sein müsse. Gibt es diese Kategorie auch in der islamischen Ethik?
Ilkiliç: Die körperliche Unversehrtheit ist in der islamischen Ethik ein zentraler Wert. Dies gilt auch für Verstorbene, und deswegen werden manche Obduktionsformen abgelehnt. Anders wird die Beschneidung der Jungen bewertet. Nach einem Ausspruch des Propheten Muhammed wird der beschnittene Zustand des Mannes als zur Natur des Menschen gehörend erklärt.
"Es gibt eine kontroverse Debatte, ob der Hirntod wirklich den Tod des Menschen bedeutet"
Um ein anderes, ebenfalls aktuelles Thema aufzugreifen: Wie werden aus islamischer Perspektive Organtransplantationen bewertet?
Ilkiliç: Mehrheitlich wird die Organtransplantation akzeptiert. Es gibt aber bestimmte Voraussetzungen, die wir auch im Deutschen Transplantationsgesetz wiederfinden. Danach soll die Organspende freiwillig sein, und man soll dem Spender keinen gesundheitlichen Schaden zufügen. Ebenso wurde auch der Organhandel abgelehnt. Dagegen wird der Hirntod unterschiedlich bewertet und nicht einheitlich akzeptiert.
Neben breiter Akzeptanz des Hirntodkonzepts gibt es auch Gelehrtenmeinungen, die die Hirntoddefinition ablehnen, was wiederum einen negativen Einfluss auf die Beurteilung der postmortalen Organspende hat. Es gibt eine kontroverse Debatte, ob der Hirntod wirklich den Tod des Menschen bedeutet.
Ein anderer Bereich der ethischen Handlungen bezieht sich auf Geld und Gewinn. Immer wieder heißt es, dass Muslime keine Zinsgewinne erwirtschaften dürfen. Ist das tatsächlich so?
Ilkiliç: Es gibt im Islam ein Zinsverbot. Dahinter steckt, dass man die Notsituation eines Vertragspartners nicht finanziell ausnutzt. Von daher wurde auch der Wucher kategorisch abgelehnt. Das Zinsverbot umfasst aber auch andere Formen des ungerechtfertigten Gewinns, bei welchem die Leistung in keinem Verhältnis zur Gegenleistung steht. Hier ist es aber wichtig, dass zwischen Zinsgeschäften und dem Handel unterschieden wird, da der Handel ausdrücklich im Islam gestattet ist. Es gibt aber unter den Rechtsgelehrten die Diskussion, ob das im Koran genannte Zinsverbot heutige Zinsen bei einer Kreditaufnahme umfasst.