Foto: epd/Dieter Sell
Judy Machiné im Mai 2012 mit ihrem todkranken Sohn Daniel (16) im Kinderhospiz Löwenherz in Syke bei Bremen.
Todkranke Kinder: Zwischen Weiterkämpfen und Loslassen
Rund 23.000 unheilbar kranke Kinder gibt es in Deutschland. Es sind ihre Eltern, die entscheiden müssen: Ist die Magensonde eine Erleichterung, soll ein Beatmungsgerät eingeschaltet werden? Das ist schwer. Und viele fühlen sich dabei sehr allein.
23.07.2012
epd
Martina Schwager

Manchmal würde Judy Machiné gerne mit ihrem 16-Jährigen über Computerspiele streiten - so wie andere Mütter mit ihren Teenager-Söhnen. Doch Daniel sitzt reglos im Rollstuhl auf der Terrasse des Kinderhospizes "Löwenherz" in Syke bei Bremen. Er ist unheilbar krank. Eine angeborene Leukodystrophie hat seine Entwicklung zunächst verzögert. Seit seinem vierten Lebensjahr hat sie ihm alles genommen: Robben, Sitzen, Sprechen und auch Schlucken und Atmen.

Immer häufiger quälen ihn Krampfanfälle und Infekte. Ohne Beatmungsmaschine und Magensonde wäre er nicht mehr am Leben. Im Kinderhospiz erholen er und seine Mutter sich vom Pflegealltag. Sein Kopf lehnt an der Kopfstütze, der Sonne zugewandt. In seinem Hals steckt die Kanüle mit dem Beatmungsschlauch, die Mimik ist starr. Judy Machiné bufft ihn in den Oberarm: "Hey Dani, come on!" Daniel blinzelt. Seine Mutter strahlt. "Er liebt es, in der Sonne zu sitzen", sagt sie. Sie ist dankbar für jeden neuen Tag.

In Deutschland leben etwa 23.000 Kinder und Jugendliche mit unheilbaren, zum Tod führenden Krankheiten. Jährlich sterben etwa 5.000 von ihnen, die meisten an angeborenen fortschreitenden Erkrankungen. Mithilfe immer neuerer Technik und immer besserer Medikamente kann das Lebensende oft sogar hinausgezögert werden. Doch was sich wie ein Segen anhört stellt eltern immer wieder vor schwere, aber unausweichliche Entscheidungen.

Ein schreckliches Spiel mit verdeckten Karten

Kinderpalliativmediziner wie Monika Führer können die Leiden der Kinder lindern. "Es ist nicht immer eindeutig, was Leiden lindert und was Leben verlängert", weiß die Professorin für Kinderpalliativmedizin in München. "Das Ziel ist aber immer Lebensqualität – für das Kind und die Familie." Die meisten Kinder können sich wie Daniel nicht mitteilen. "Das ist wie in einem schrecklichen Spiel, bei dem die Karten verdeckt auf dem Tisch liegen", sagt Judy Machiné. "Wir Eltern werden gezwungen, immer wieder eine zu nehmen, ohne zu wissen, was sich darunter verbirgt."

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Vor ein paar Jahren hat Daniel eine Magensonde bekommen, die ihn durch die Bauchdecke mit Nahrung versorgt. Er konnte vorher nicht mehr richtig schlucken, erbrach das Essen. Speisebrei geriet in die Lunge und verursachte lebensbedrohliche Entzündungen. "Essen war immer seine Leidenschaft", sagt seine Mutter. "Aber zum Schluss hat er es gehasst."

Die Entscheidung für die Magensonde war dennoch nicht einfach. Denn sie wusste, dass die dafür notwendige Operation sein Krankheitsbild verschlechtern würde. "Als er aus der Narkose aufwachte, konnte er Hände und Arme nicht mehr bewegen. Hilfe hat für uns immer eine Schattenseite." Bis heute hat Judy Machiné noch viele Male ähnliche Entscheidungen treffen müssen. Seit eine Kanüle unterhalb des Halses direkt in die Lunge führt, steht sie bei jedem Infekt vor der Frage, ob das Beatmungsgerät angeschlossen werden soll - ob es ihm hilft oder ob es ihm den Weg zu einem friedlichen Sterben verstellt. Die Infekte kommen in immer kürzeren Abständen, werden immer heftiger. "Aber wir haben auch immer noch gute Tage", sagt Daniels Mutter. "Dann freut er sich, wenn wir schwimmen gehen."

Eltern werden mit ihrer Entscheidung oft allein gelassen

"Eltern sind alleine mit der Entscheidung über Leben und Tod ihrer Kinder überfordert", sagt Gaby Letzing, Leiterin des Kinderhospizes "Löwenherz": Sie ermuntert zu klärenden Gesprächen mit Ärzten, Pflegern und Seelsorgern. Schriftlich wird dann festgehalten, ob in einem Notfall lebensrettende Maßnahmen eingeleitet werden sollen oder das Sterben begleitet werden soll.

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Auch die Palliativmedizinerin Führer hält solche Elternverfügungen nach intensiven Beratungen mit Ärzten für hilfreich. Eltern wollten auf keinen Fall, dass ihr Kind Schmerzen hat, unter Atemnot leidet oder Ängste aussteht. Sie müssten jedoch auch sicher sein können, dass sie eine Entscheidung immer noch wieder ändern können. "Die schlimmste Vorstellung für die Eltern ist, dass ihrem Kind im Notfall nicht ausreichend geholfen werden kann."

Doch anders als etwa in Großbritannien sei in Deutschland die Kinderpalliativmedizin noch nicht sehr weit verbreitet, bedauert die Expertin. Zu häufig würden die Eltern mit der Last der Entscheidung allein gelassen. In Bayern habe die "Arbeitsgemeinschaft Kinderpalliativmedizin" ein bundesweit einmaliges Konzept entwickelt, erläutert die Professorin. Dazu gehörten auch ambulante Kinderpalliativ-Teams und die enge Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Eltern.

Auf Herz und Augen hören

Wie schwer es dennoch bleibt, das Lebensgefühl Schwerstkranker einzuschätzen, zeigt das Beispiel von Christian. Er ist 22 und durch eine Körperbehinderung rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Er könnte ohne Beatmungsmaschine nicht leben. Weil er häufig unter Atemnot und dann unter Panikattacken leidet, wünscht er sich manchmal den Tod. Doch für die schönen Augenblicke - mit Freunden zusammen sein, lesen, liebe Eltern zu haben - dafür lohne es sich zu kämpfen, findet er: "Denn wer nicht kämpft, hat meiner Meinung nach schon verloren."

Judy Machiné hat an ihren Daniel geschrieben: "Ich wünschte, Du könntest auch nur einen Tag ohne Schläuche, Pampers und Beatmungshilfe genießen. Dieses Abenteuer war nicht das Abenteuer, um das ich gebeten hätte, und es hat uns beide über unsere Grenzen hinaus gefordert." Sie versuche die richtige Balance zu finden zwischen tun und nicht tun, zwischen weiter kämpfen und loslassen, versichert sie ihrem Sohn: "Ich lerne, genau auf mein Herz zu hören und in Deine Augen zu schauen, um Hinweise zu bekommen, wie ich weitermachen soll."