Vier Monate nach dem ZDF erinnert auch die ARD an jenen Tag im September 1972, als sich die heiteren, sorglosen Spiele von München innerhalb weniger Stunden zu einer Tragödie wandelten: Zum ersten Mal überhaupt fand ein Terrorakt live vor laufenden Kameras statt. Palästinensische Terroristen hatten das Olympische Dorf überfallen und israelische Sportler als Geiseln genommen. Nicht einmal 24 Stunden später endete der Versuch, die Israelis auf dem Flughafen in Fürstenfeldbruck zu befreien, in einem Desaster, bei dem sämtliche Geiseln ums Leben kamen.
Dokumdrama statt Spielfilm
Das ZDF hat die Ereignisse im März als Spielfilm erzählt („München 72 – Das Attentat“), die ARD wählt die Form des Dokudramas. Die beiden Produktionen ergänzen sich trefflich, denn nun kommen all jene zu Wort, die die Tragödie hautnah miterlebt haben. Die große Stärke des Films ist seine Multiperspektivität: Marc Brasse und Florian Huber, die auf ähnlich sehenswerte Weise bereits die letzten 24 Stunden vor dem Mauerfall rekonstruiert haben („Schabowskis Zettel“, 2009), lassen Sportler, Funktionäre, Polizisten und Politiker zu Wort kommen. Die völlig unterschiedlichen Blickweisen ergeben am Ende ein Gesamtbild, das keine Fragen offen lässt. Dank der bislang unveröffentlichten Privataufnahmen der israelischen Mannschaft konnten sich die Filmemacher bei den nachgestellten Szenen auf dramaturgisch wichtige Momente beschränken. Die Übergänge zwischen den dokumentarischen und den rekonstruierten Aufnahmen sind nahtlos und kaum spürbar.
Geschickt verteilt das Drehbuch die Last der Erzählung gleichwertig auf mehrere Schultern. Während Ulrike Meyfarth für den fröhlichen Teil der Spiele steht, sind die Erinnerungen von Heide Rosendahl deutlich getrübter: Sie war mit einer israelischen Leichtathletin befreundet. Ganz nah dran am Geschehen waren der Pilot eines Bundesgrenzschutzhubschraubers (gespielt von Matthias Koeberlin) sowie ein Polizist, der zum völlig überforderten Sonderkommando gehörte (Stephan Luca). Ungleich intensiver aber sind die Szenen mit den beiden Männern, die die Verhandlungen mit den Palästinensern führten: Walther Tröger (Peter Lohmeyer), Bürgermeister des Olympischen Dorfes, und Hans-Dietrich Genscher.
Auch der ehemalige Innenminister Genscher lässt sich interviewen
Womöglich bestand die größte Leistung von Brasse und Huber darin, den damaligen Innenminister zur Teilnahme zu überreden. Bis dahin hatte Genscher öffentlich noch nie über die seiner Aussage nach schlimmsten 24 Stunden seines Lebens gesprochen. Entsprechend groß ist die Faszination seiner Schilderungen, zumal er nicht nur aus erster Hand über die Ereignisse berichten kann: Er hatte sich damals bereit erklärt, sich gegen die Geiseln austauschen zu lassen, und sich schon telefonisch von seiner Familie verabschiedet.
Ausgerechnet bei Genscher verstoßen Brasse und Huber gegen das Prinzip möglichst großer Ähnlichkeit. Stephanie Stumph zum Beispiel ist praktisch ein Ebenbild der israelischen Sprinterin, Bert Tischendorf ist das perfekte Double für den Staffelläufer Manfred Ommer, der das Olympische Dorf als einziger deutscher Sportler aus Respekt vor den Opfern verließ. Genscher aber wird von Michael Brandner verkörpert, der dem Politiker abgesehen von der Leibesfülle kein bisschen ähnlich sieht. Nicht mal die Koteletten stimmen, denn im Gegensatz zu den meisten deutschen Männern trug der Innenminister 1972 keinen Backenbart.
Natürlich ist das bloß eine Kleinigkeit, aber sie stört den ansonsten reibungslosen Fluss des Films. Davon abgesehen ist „Vom Traum zum Terror“ auch dank der Bildgestaltung (Kamera: Jürgen Heck, Schnitt: Uli Weinlen) ein jederzeit fesselndes und ungemein berührendes Dokudrama.