Dünne Bücher
Foto: Anika Kempf
evangelisch.de hat für Sie Urlaubsbücher auf die Waage gelegt. Das Buch "Ich nannte ihn Krawatte" von Milena Michiko Flasar ist nicht nur wegen seiner 309 Gramm ein Schwergewicht.
Leichte Urlaubsschmöker für die Reisetasche
Fehlt noch was zum Lesen? Was Leichtes, Dünnes, weil der Koffer sowieso schon platzt? Da hätten wir was für Sie. Bücher, die schmal sind, aber extrem gehaltvoll. Nicht so viele Seiten, aber mit viel drin. Bücher, die Blicke in fremde Köpfe eröffnen und Trips in die eigene Seele. Also, los geht's, und zwar nach Gewicht.

Milena Michiko Flasar: Ich nannte ihn Krawatte (309 Gramm)

In Tokio mag die Parkbank stehen, vielleicht auch in einer anderen japanischen Stadt. Zwei Männer begegnen sich dort. Ein Hikkikomori, einer von vielen jungen Männern in Japan, die sich dem Leben verweigern, einfach zu Hause bleiben, mit einer Art von vorweg genommenem Burn out. "Wir treiben auf schmelzendem Eis" – das ist so ungefähr der erste Satz, den er nach zwei Jahren hervorbringt. Sein Zuhörer ist "salary man", so nennt man in Japan die Angestellten. Dieser hier ist aber keiner mehr, er tut nur noch so, isst auf der Parkbank das Bento, das ihm seine ahnungslose Frau morgens zubereitet, und wartet auf den "Feierabend". Die beiden aus der gnadenlosen Modernität Gefallenen teilen von nun an ihre Geschichten und Gedanken, setzen dem Druck, den sie nicht mehr ausgehalten haben, ihre Furcht und Ohnmacht entgegen, ihre Sprache. Und finden zögernd wieder einen Weg in die Welt.

Milena Michiko Flasar, Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters, erzählt sehr zart von der Macht der Nähe – und der Verweigerung.

Wagenbach Verlag, Berlin 2012. 140 S., geb., 16,90 Euro.

 

James Joyce: Geschichten von Shem und Shaun (291 Gramm)

Mit dem dicken "Ulysses" auf Englisch hatte sich die lesende Urlauberin schon als 17jährige überhoben und danach immer einen großen Bogen um Joyce gemacht. Voller Ehrfucht. Aber eben mehr: Furcht. Die "Geschichten" – Splitter aus dem letzten Roman "Finnegans Wake" – kommen deutlich dünner daher, sie haben lustige Titel, das machte Mut. Wieder ein zweisprachiges Buch, und, seltsam, keine davon ist deutsch. Oder richtiges Englisch! Friedhelm Rathjen hat Joyce' phantastische Sprachverdrehungen übertragen, er hat auf wundersame Weise einen Ton gefunden, den Witz, den richtigen Rhythmus. Zwischen Joyce und Rathjen hin und her zu switchen, das macht Spaß. Die "Geschichten..." ist eines dieser Bücher, bei denen es sich vielleicht auch lohnt, nur zehn Seiten zu lesen. Oder vorzulesen. Mit einem Guiness in der Nähe. Oder zweien.

Geschichten von Shem und Shaun/ Tales told of Shem and Shaun. Drei Geschichten aus "Finnegans Wake", englisch und deutsch, übersetzt von Friedhelm Rathjen, Suhrkamp / Insel Berlin 2012, 100 Seiten, 17,95 Euro.

 

Hans-Joachim Schädlich: Der König und der Philosoph

(263 Gramm)

Sie schmücken und sie nützen einander, bis die Realität unübersehbar wird: Friedrich II. von Preußen ist nicht der "gute König", den Voltaire in ihm sah, sondern zynischer Machtmensch und Kriegsherr. Voltaire ist zwar ein kluger Denker und Autor, der den Hof ziert und als Lektor Friedrichs Schriften Schliff verleiht. Aber er ist auch ein Spekulant, der mit Staatsschulden illegalen Reibach macht, und ein Streiter, der die Berliner Kreise stört. Erst wächst die Distanz, dann kommt die schmutzige Trennung.

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Hans-Joachim Schädlich hat aus den Quellen eine Art Collage hergestellt, die auf lakonische Weise nachzeichnet, was diese beiden Größen des 18.Jahrhunderts erst zusammen führte und wieder trennte. Ein relativ dünnes Buch, gemessen daran, wie dick es der Autor und seine beiden Protagonisten hinter den Ohren haben. Eine intensive Urlaubslektüre – und es motiviert dazu, ein paar Resturlaubstage für einen Ausflug nach Potsdam aufzuheben, für die Friedrich-Ausstellung!

"Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II." Eine Novelle. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 144 S., geb., 16,95 Euro.

 

Ralf-Peter Märtin: Pontius Pilatus (181 Gramm)

Wer hat Jesus getötet, wer hat Schuld an seinem Tod? Egal, meint Ralf-Peter Märtin. Gleichwohl interessiert er sich für die Person des Mannes, der eine entscheidende Rolle in der Passionsgeschichte spielt. Eine Charakterstudie des römischen Präfekten, ein historischer Roman, eine Exkursion auf den Spuren von Herodes und Pilatus – ganz schön viel für ein dünnes Buch. Märtin, Althistoriker und Bestsellerautor, hält sich in zwei Kapiteln an die überlieferten Fakten, in einem dritten lässt er Pilatus in Form eines inneren Monologs erzählen, von einem einzigen Tag, dem Tag, an dem Jesus gekreuzigt wurde. Sehr spekulativ, aber das auf der Grundlage der historischen Quellen – wenn man so gut ist wie Märtin, dann darf man das wohl. Als Urlaubslektüre nicht zu schwer. Besonders anregend, wenn man nach Jerusalem und Caesarea reist. Und in Rom schon gewesen ist.

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2012, 175 Seiten, 9,99 Euro.

 

Don DeLillo: Cosmopolis (166 Gramm)

Wir könnten auch gleich in den Film gehen, der läuft gerade im Kino, aber das Buch ist besser. Eric Packer, ein sehr junger Multimilliardär will in seiner büromäßig ausgestatteten Stretchlimo zum Friseur fahren, einmal quer durch New York. Leider ist der Präsident in der Stadt, Demos sind unterwegs, angeblich auch ein Attentäter, der es auf Packer abgesehen hat, das hält auf. Der Trip dauert 24 Stunden, in denen der Cyberkapitalist nur selten den Blick von den Monitoren wendet, darauf lauernd, dass der Yen endlich fällt, 24 Stunden, in denen er seine frisch angetraute Frau trifft, seinen Sicherheitschef, seine Geliebte, seine Kunsthändlerin. Und dann passiert noch mehr, vor allem aber wird geredet, wunderbare Dialoge, wie gemeißelt. Sie wirken wie ein Gedicht, wie eine gespenstische Prophezeiung. Über David Foster Wallace hat Don DeLillo einmal gesagt, er sei eine "Rakete in die Zukunft". DeLillos "Cosmopolis" war das auch, als der Roman 2004 erschien, lange vor Lehmann-Krise, trudelnden Finanzmärkten und Occupy.

Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2012, 208 Seiten, 8,99 Euro.

 

Mark Twain, Schreiben ist leicht ... (162 Gramm)

Der Titel führt die abenteuerlustige Urlauberin wieder auf einen anderen Kontinent; weg vom Lesen, hin zum Texten. Denn in diesem Büchlein steht – nichts. Es wartet auf Ihre Notizen, Gedichte, Beobachtungen. Es lädt zum Schreiben ein, nicht zum Schwafeln, denn es ist wirklich dünn. Auf dem Titel macht Mark Twain Mut: "Schreiben ist leicht, man muss nur die falschen Wörter weglassen." Ein feiner Bleistift ist auch dabei. Jetzt müssen Sie nur noch überlegen, welche Wörter die richtigen sind...

Insel Bücherei mit Bleistift von Faber-Castell. Insel Verlag, 7 Euro.

 

Flavia Company: Die Insel der letzten Wahrheit (151 Gramm)

Jetzt kommt die lesende Urlauberin doch noch zu einer Art Pageturner. Jedenfalls zu einem sehr, sehr spannenden, klug konstruierten Roman, dem sie gerne nachsieht, dass er von einer Autorin mit zurückhaltendem literarischen Ehrgeiz verfasst wurde. – Ein Mann verliert seine Freunde, sein Boot bei einem Piratenangriff, er schwimmt um sein Leben, landet zu Tode erschöpft auf einer einsamen Insel und trifft dort einen einzigen Menschen: einen der Piraten. Vom Rest sei jetzt nichts mehr verraten. Ein langer Nachmittag am Strand genügt, um das Buch zu verschlingen. Allerdings: Wer das Ende erreicht hat, will dann vielleicht mindestens die Hälfte des Buches noch einmal lesen, aus der Perspektive, die der ganz unglaubliche Schluss plötzlich nahelegt. Und dann müssen alle Mitreisenden das Buch ebenfalls lesen. Weil es doch so spannend ist. Und weil es ein Ende hat, über das man reden möchte...

Roman, Bloomsbury Taschenbuch, 160 Seiten, 9,99 Euro.

 

David Foster Wallace: Dies hier ist Wasser (92 Gramm)

Der Titel schien vielversprechend für eine Urlaubslektüre, klang nach Atlantik, Wellen. Erwies sich aber keinesfalls als Meeresrauschen, sondern als eine Rede, die der brillante Schriftsteller und Geisteswissenschaftler 2005 vor College-Absolventen in Connecticut hielt. Untertitel: "Gedanken zu einer Lebensführung der Anteilnahme, vorgebracht bei einem wichtigen Anlass". Auch für ein dünnes Buch sehr dünn: 62 Seiten. Und Sie müssen nur die Hälfte davon lesen, entweder das Original oder die Übersetzung von Ulrich Blumenbach. Amüsant und geistreich empfiehlt Wallace dem akademischen Nachwuchs, die Perspektive zu wechseln. Wir alle, sagt er, haben die Wahl, entweder nach unseren Standardeinstellungen zu operieren – und damit in der Tretmühle des Siegens, Leistens und Blendens unglücklich zu werden. Oder denken zu lernen, wahre Bildung und Freiheit zu erlangen: Empathie. "Es geht nicht um Moral, Religion, Dogmen oder wichtigtuerische Überlegungen zum Leben nach dem Tod. Die Wahrheit ... dreht sich um das Leben vor dem Tod. Sie dreht sich um die Frage, wie man dreißig oder gar fünfzig Jahre alt wird, ohne sich die Kugel zu geben."

David Foster Wallace ist 46 Jahre alt geworden. Er hat sich im Jahr 2008 erhängt.

Zweisprachige Ausgabe (Englisch / Deutsch); aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach, Kiepenheuer und Witsch, Köln 2012,  4,99 Euro.