Regen prasselt gegen die Scheibe der Pförtnerloge im Jüdischen Krankenhaus in Berlin: Ja, man werde gleich abgeholt. Der Eindruck während der Wartezeit in der käfigartigen, mit Metallzäunen begrenzten Schleuse: ein ganz normales Krankenhaus. Zwei junge Mädchen unter einem Schirm laufen kichernd vorbei, ein Farbiger in HipHop-Montur zieht gegen den Regen sein Basecap tiefer ins Gesicht, ein türkischer Vater betritt mit seinem Sohn an der Hand das Gelände und macht dem Pförtner ein Zeichen: man kennt sich. Hier auf der Grenze zwischen Berlin-Mitte und Reinickendorf, ein paar Kilometer nördlich vom hippen Hackeschen Markt, wohnen alle: Alt-Berliner mit und ohne Migrationshintergrund.
Ein paar Minuten später geht es durch den Personaleingang über schmale Treppen in Richtung Gesprächszimmer. Gedämpfte Schritte dringen aus den breiten Krankenhausgängen, hier und da verhallt ein Gesprächsfetzen, der typische Krankenhausgeruch nach Desinfektionsmittel, eine Schwester in weiß auf dem Weg in ein Patientenzimmer. Oberarzt Dr. Martin Müller wartet bereits vor dem Besprechungsraum, guckt freundlich-skeptisch, lächelnd, dennoch distanziert. "Wir haben derzeit so viele Anfragen von der Presse, Sie verstehen", entschuldigt der Pressesprecher die lange Wartezeit und führt uns in sein kleines Büro.
"Ich war einfach überrascht"
Man ist vorsichtig im Umgang mit den Berichterstattern. Das Thema Beschneidung ist längst zum Politikum geworden, und nicht alles, was man liest und hört, ist richtig. "Was haben Sie empfunden, als Sie von dem Kölner Urteil erfuhren, Herr Müller?". Dr. Martin Müller, seit über 30 Jahren Chirurg am Jüdischen Krankenhaus, antwortet vorsichtig und ausweichend. Er will die offizielle Linie des Krankenhauses respektieren und ist besonders behutsam mit Äußerungen, die jüdische Glaubensinhalte betreffen: "Wir können von unseren Ärzten nicht verlangen, sich potentiell strafbar zu machen."
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Seit dem 26. Juni hat das Jüdische Krankenhaus offiziell die religiös motivierte Beschneidung von unter 14-Jährigen eingestellt. "Als ich abends vor dem Fernseher von dem Urteil erfuhr, war ich einfach überrascht. Erst am nächsten Morgen, in der Teambesprechung mit dem ärztlichen Direktor über unsere zukünftige Praxis, ist mir bewusst geworden, welche Auswirkungen der Richterspruch auf unsere Arbeit und das Leben unserer Patienten hat", meint der 56-Jährige.
Seit seiner Gründung vor 256 Jahren versteht sich das Jüdische Krankenhaus als ärztliche Versorgungseinrichtung für Jedermann. Patienten und Ärzte aller Konfessionen sind hier willkommen, und das ist auch im Kiez längst eine Selbstverständlichkeit. Nicht erst seit 1963, als die Trägerschaft der jüdischen Gemeinde das Krankenhaus in eine Stiftung bürgerlichen Rechts überführt hat, sind nur etwa die Hälfte der insgesamt 70 Ärzte jüdischen Glaubens. "Auch bei muslimischen Patienten genießen wir großes Vertrauen", sagt Müller, der selbst praktizierender Protestant ist.
Koschere Mahlzeiten werden den Patienten auf Wunsch von einem jüdischen Restaurant angeliefert, den Gläubigen steht auf dem Gelände eine Synagoge zur Verfügung. Zu den wichtigsten jüdischen Feiertagen werden dezente Feierlichkeiten organisiert, und gläubige Patienten können sich Rat bei einem Rabbiner einholen.
Etwa ein Drittel religiöse Beschneidungen
Natürlich gehören auch Beschneidungen zum Alltag. "Über die Jahre haben wir uns einen guten Ruf auf dem Gebiet der Zirkumzision erarbeitet. Wir erhalten aus ganz Deutschland, teils sogar aus dem Ausland Anfragen für OP-Termine für die Beschneidung", berichtet Oberarzt Müller. "Jüdische Eltern planen die rituelle Beschneidung neugeborener Jungen bereits vor der Geburt, um so die vorgesehene Frist von acht Tagen einhalten zu können."
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Rund 150 Beschneidungen haben Müller und drei seiner Kollegen bisher jährlich vorgenommen, davon etwa ein Drittel aus religiöser Motivation. Bei rituellen Beschneidungen ist auch im Krankenhaus manchmal ein Rabbiner anwesend, der die Zeremonie mit Segenssprüchen und Gebeten, der "Bracha", begleitet. Strenggläubige Juden lassen die Beschneidung allerdings vom Mohel, dem Zeremonienmeister, in der Synagoge vornehmen.
"Unser Krankenhaus bietet eine aus medizinscher Sicht sichere Behandlung an", betont Müller. Die Operation als solche sei ein unkomplizierter ambulanter Eingriff und dauere etwa 15 bis 20 Minuten. Bei Neugeborenen werde eine Lokalanästhesie durch eine Salbe vorgenommen. Nach der Beschneidung (Brit Mila) mithilfe von Klemmen und einem Skalpell oder dem traditionellen "Schlitzblech" aus Israel werde die Wunde mit vier selbstauflösenden Nähten geschlossen. Patienten über fünf Jahren, zum Beispiel erwachsene Konvertiten, erhalten eine Vollnarkose. Nach spätestens zehn Tagen und einigen Kamille-Bädern ist die Verheilung abgeschlossen.
"Die Kinder wirken stolz und zufrieden"
Probleme bei der Operation gibt es laut Oberarzt Müller es so gut wie nie. Gerade im Krankhaus sei die Gefahr von Infektionen, Nachblutungen oder Narbenbildung extrem gering: Wenn die Behandlung fachmännisch vorgenommen werde, bestehe keine Gefahr. Für Patienten, die die Bedeutung der Beschneidung bereits verstehen können, sei der Eingriff ein eher positiv belegtes Erlebnis, ist Müllers Erfahrung: "Gerade Kinder ab dem fünften Lebensjahr wirken nach der Operation stolz und zufrieden. Es ist vergleichbar mit der Firmung: Was zählt, ist nicht das Aschekreuz auf der Stirn, sondern der symbolische Schritt und die Feierlichkeiten."
Den Eltern, die vor dem 26. Juni bereits einen OP-Termin für ihr Kind vereinbart hatten, mussten Müller und seine Kollegen wieder absagen. Zwar habe man Verständnis gezeigt für die Reaktion der Ärzte auf das Kölner Urteil, aber die Enttäuschung über das entgangene religiöse Ritual und das ausgefallene Familienfest sei groß gewesen.
Oberarzt Müller geht allerdings davon aus, dass das Fest nicht für alle Familien ausgefallen ist: "Für die medizinische Sicherheit der Beschneidung außerhalb des Krankenhauses können wir natürlich nicht garantieren. Es ist jedenfalls nicht davon auszugehen, dass Eltern aufgrund des Urteils auf die Beschneidung ihres Kindes verzichten."
Nur Rechtssicherheit kann die Unsicherheit lösen
Im Kollegium des Jüdischen Krankhauses herrscht auch eher Unverständnis über das Urteil aus Köln. Das "Wohl des Kindes" sei ein zu dehnbarer Begriff, um hierauf ein Urteil von solcher Tragweite zu begründen. "Wenn ein Kind starke Segelohren hat, und die Eltern das ohne die Einwilligung des Kindes operativ beheben lassen – wer sagt, dass das zum Wohle des Kindes geschieht?", fragt Müller. Er und seine Kollegen haben sich dennoch an die neue Regelung angepasst, auch wenn weiter rechtliche Unklarheiten bleiben.
Obwohl man in Deutschland ab 14 Jahren uneingeschränkt religiös mündig ist und das Alter nach dem Urteil auch auch für das Krankenhaus die offizielle Beschneidungsgrenze ist, operiert das Kollegium vorerst nur Patienten ab 18 Jahren. "Wir warten auf eine endgültige Entscheidung und gehen bis dahin lieber auf Nummer sicher, bevor wir uns strafbar machen", erklärt der Oberarzt.
Die neue Rechtsprechung habe für eine deutliche Unsicherheit gesorgt, denn immerhin sei dadurch eine Jahrtausende alte Tradition plötzlich als Straftat gewertet worden: "Natürlich kommen da auch Zweifel auf, ob die bisherige Praxis richtig war. Plötzlich diskutieren wir über Dinge, die vorher eine Selbstverständlichkeit waren." Und die Diskussionen werden weitergehen, so lange keine Rechtssicherheit für die Beschneidung geschaffen ist.