Thorsten Jäger ist für sein Leben gern Schornsteinfeger. Wenn der 33-Jährige über die Dächer der Mainmetropole Frankfurt balanciert, sieht er die sich spiegelnden Hochhäuser des Finanzplatzes aus dem Häusermeer empor weit in den Himmel ragen. Wendet er seinen Blick, zeigen sich ihm bei klarer Sicht Wälder, Hügel und der Große Feldberg des nah gelegenen Taunus. Wenn sich frühmorgens die Welt noch den Schlaf aus den Augen wischt, die Sonne aufgeht und die Luft noch frisch und unverbraucht riecht, bricht seine schönste Tageszeit an. Dann erwacht die Stadt, Autos zuckeln durch die Straßen, stauen sich vor roten Ampeln, hupen und die Menschen jagen ihrer Zeit hinterher.
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Davon lässt sich Jäger nicht beeindrucken. Schornsteinfeger brauchen Konzentration, vor allem aber einen wachen Blick und festen Halt. Sorglose Routine könnte lebensgefährlich werden. Und unter Höhenangst leidet man besser sowieso nicht. Egal ob Satteldach, Flachdach, Jugendstilbau oder Einfamilien-Energiesparhaus: Über eine Laufanlage, den Dachstieg, geht man als Schornsteinfeger Schritt für Schritt meist mehr, seltenerer weniger sicher über die Häusergiebel der Stadt. Auf dem Weg nach oben geht es oft durch enge, dunkle Geschosse, zeitvergessen und spinnenverwoben, bis schließlich eine Leiter zur Dachluke, vorbei an Wespen und Hornissen, einem den Weg nach draußen freigibt.
"Ständige Erreichbarkeit macht viele Menschen kaputt"
Als junger Bursche, mit 15 Jahren, erstieg Thorsten Jäger als Praktikant zum ersten Mal den Giebel eines Dachs. Heute wird ihm in seinem Kehrbezirk im Frankfurter Norden in 1400 Häusern Einlass gewährt. "Vom Dach aus verändert sich mein Blick auf die Welt. Ich habe das Gefühl, dass die Gesellschaft von Jahr zu Jahr hektischer wird. Die Anforderungen werden immer größer. Jeder will immer mehr, anstatt die Dinge mal so anzunehmen, wie sie sind." In seiner zwölfjährigen Berufslaufbahn hat Jäger beobachten können, dass manche Menschen einfach immer über alles jammern, statt sich aufzuraffen und zu wagen, sich selbst und die Verhältnisse zu ändern. "Das Misstrauen unter den Menschen nimmt zu. Das jederzeit abrufbare Wissen im Internet lässt viele Menschen am Fachwissen tatsächlicher Experten zweifeln."
Thorsten Jäger ist ein Menschenfreund. Was ihn aber gewaltig stört, ist die aufdringliche Forderung nach ständiger Erreichbarkeit, vor allem durch soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter. Ihn irritiert, wie viele sich freiwillig von dieser Technik ausnutzen lassen. Obwohl auch manch ein Kunde ihn erstaunt fragt, warum er nicht auf Facebook ansprechbar sei, bleibt ihm das direkte Gespräch von Angesicht zu Angesicht wichtiger. Schließlich ist der Schornsteinfeger mit seinem Mobilfunktelefon gut zu erreichen. Er kritisiert: "Heute will jeder alles immer gleich und sofort. Alles ist sehr ichbezogen geworden, nicht nur im Beruf, auch im Straßenverkehr oder beim Einkaufen. Keiner hat mehr Zeit. Die Hilfe unter Nachbarn wird immer weniger."
"Auf dem Dach fühlt man sich dem Himmel automatisch näher"
Wenn Thorsten Jäger nach vielen Berufsjahren heute die Stufen nach oben erklimmt, lässt er auch immer den stressigen Alltag ein wenig hinter sich. "Ich genieße meine Zeit oben und sehe, wie die Leute unten im Stress sind." An einer dicht befahrenen Strasse, wo Autos und U-Bahnen den Takt der Großstadt vorgeben, beobachtet er, wie viele Menschen versuchten, "ihre" Bahn noch in letzter Sekunde zu erwischen. Lässt er seinen Blick weiter in die Ferne schweifen, geschieht das gleiche.
Wie ein Netz spannt sich diese Jagd nach Zeit durch die Stadt, über das ganze Land. Wird er sich dessen bewusst, "dann fühlt es sich gut an, oben auf dem Dach meine Arbeit machen zu können", erzählt Jäger. Und weil es ihm da so gut gefällt, packt er manchmal sein Frühstück oben gleich mit aus und gießt sich Kaffee ein. Einsam ist es auf den Dächern der Großstadt nicht: Handwerker sind auf anderen Häusern am Werk, Menschen winken von Terrassen und Kinder von der Straße hinauf. Oben fühlt sich Thorsten Jäger an manchen Tagen Gott näher als unten auf der Erde. "Das Dach strahlt Ruhe aus, da fühlt man sich dem Himmel automatisch näher."
Schornsteinfeger bringen das Glück ins Haus
Beruflich ist er stets in seiner schwarzen Arbeitsmontur unterwegs, ölrußbeständig mit Lederaufsätzen, mit Zylinder, Kehrgerät, der Jacke mit den goldenen Knöpfen, auch "Koller" genannt. Im Hochsommer, wenn die Sonne auf die Dächer knallt, wird es richtig heiß. Deswegen gibt es auch für Schornsteinfeger eine Sommerkleidung. Beliebt ist Jäger aber vor allem um die Jahreswende. Dann hat er als Glücksbringer Hochkonjunktur. Bäckereien verkaufen die "schwarzen Männer" häufiger als Marzipanfigur.
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Schornsteinfeger bringen im Volksglauben auch deswegen Glück, weil sie Leben retten, indem sie verhindern, dass Menschen ersticken oder geruchloses Kohlenmonoxid austritt. Viele freuen sich, wenn sie dem Schornsteinfeger auf der Straße begegnen. "Oh Du Glücksbringer, darf ich Sie mal anfassen?", bekommt er dann oft zu hören. So bat ihn eine Studentin einmal auf dem Weg zu ihrer Prüfung, ihn anfassen zu dürfen und es hat geklappt, sie hat bestanden. Ein Ohrwurm lässt ihn nicht los: Das Schornsteinfeger-Lied: "Chim-Chim-Cheree" im Film "Mary Poppins". Thorsten Jäger pfeift die Melodie fröhlich über die Dächer der Stadt.