Foto: Getty Images/Fredy Amariles
Schon 2011 gingen in Kolumbien Hunderte auf die Straße, um für die Legalisierung von Marihuana zu demonstrieren. Kürzlich hat aber selbst der Staatschef diese Idee ins Spiel gebracht.
"Legalize it" im Land des Drogenkrieges
Kolumbien diskutiert über die Legalisierung von mehr als nur Hasch
Die großen Banden aus den 90ern sind seit Jahren zerschlagen, aber der Drogenhandel geht weiter. Kolumbien diskutiert jetzt einen neuen Weg gegen illegale Rauschmittel: die Legalisierung. Dabei ist nicht nur Marihuana im Gespräch. Aber um den Drogensumpf trockenzulegen, müsste auch die Nachfrage sinken. Das bedeutet Suchtprävention - auch dort, wo die Drogen gekauft werden: in den USA und Europa.

"AK-47, 7.62 mm, M16, ein Revolver .38 und zwei Granaten." So beschreibt Henry Bustamente das, was er die vergangenen vier Jahre gemacht hat. Henry war bei einer "Bacrim", einer der schwerbewaffneten, kriminellen Banden in Kolumbien. Diese "Bandas Criminales" sind landesweit vernetzte Nachfolgerorganisationen der kolumbianischen Paramilitärs: straff organisierte, quasi-militärische Einheiten, die auch im Drogengeschäft mitmischen.

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Wenn Henry heute der Reihe nach die von ihm benutzen Waffentypen aufsagt, tut er das, um sich zu erinnern und – obwohl er nicht stolz ist auf seine Vergangenheit – auch um zu zeigen, wie gut er darin war, was seine Auftraggeber von ihm forderten. Henry war ein loyaler Kämpfer. Dass seine Bewaffnung mit jedem neuen Befehl besser wurde, bedeutete, dass seine Bosse das ganz genau so sahen.

Henry Bustamente. Foto: Florian Mayer-Hawranek

Mit 14 heuerte Henry bei einer Bacrim im Bundesstaat Santander im Nordosten Kolumbiens an. Seine Mutter hatte er nie kennengelernt, sein Vater hatte ihn oft geschlagen. Deshalb riss Henry aus. Nach wenigen, schrecklich hungrigen Monaten auf der Straße schloss er sich den Bacrim an, die ihm Kleidung, Essen und ein Einstiegsgehalt von 500.000 Pesos boten, etwa 200 Euro im Monat. Zwei Monate Ausbildung, danach schickte ihn sein Kommandant in den 700 Kilometer entfernten Dschungel im schwülheißen Departamento del Meta. Henry sollte dort die Drogengeschäfte der Bande beschützen. Er blieb vier Jahre.

Heute kämpft Henry mit Buchstaben und Zahlen. Er ist 18 und wieder in der Schule. Henry fängt da an, wo er vor vier Jahren aufgehört hat: in der achten Klasse. Vor zwei Monaten ist in die Hauptstadt Bogotá geflüchtet. Jetzt wohnt er mit 120 anderen hilfsbedürftigen Jugendlichen im Kinderwohnheim der Stiftung Benposta.

Legales Marihuana im "Bayern Südamerikas"?

Mehr als eine Stunde mit dem Bus von Henrys neuem Wohnort, im Zentrum der Stadt, fragt sich Ariel Avila, wie viel Geld die Narcotraficantes, die Drogenhändler in Kolumbien, wohl umsetzen. Zehn Milliarden Dollar pro Jahr, die Angabe der Regierung, sei wohl recht niedrig, sagt er. Avila ist 28, ein smarter, aufstrebender Referent mit eigenem Büro. Er forscht über das, was für Henry vier Jahre lang Alltag war und heute Vergangenheit ist: "Organisierte Kriminalität" ist Avilas Themenfeld bei der Denkfabrik Nuevo Arco Iris, die sich seit 1994 für mehr Frieden in Kolumbien einsetzt.

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"Das Drogengeschäft ist demokratischer geworden", sagt Avila. Früher hätten die Kartelle bestimmt, wer mitmischen durfte. Als die großen Bosse dann gefangen oder getötet waren, konnte plötzlich jeder sein Glück versuchen. "Und die Menschen kamen in Scharen." Anstatt großer, hierarchischer Strukturen dominieren deshalb heute kleine Netzwerke. Sie haben die kolumbianische Gesellschaft tief durchdrungen. Sie seien deshalb schwerer zu fassen, sagt Avila,  "weil sie ihre Geschäfte abwickeln können, ohne Aufsehen zu erregen". Die Gewalt, auf die der Staat gegen die großen Drogenbosse wie Pablo Escobar noch gesetzt hat, sei heute deshalb nahezu wirkungslos.

Juan Manuel Santos, der Präsident Kolumbiens und damit auch der Staatschef des Landes mit der wohl weltweit größten Produktion an Kokain, hat das anscheinend eingesehen. "Trotz unserer größten Bemühungen müssen wir heute doch eines zugeben: Der Handel mit illegalen Drogen geht weiter", hat Santos vor kurzem den versammelten Präsidenten des amerikanischen Kontinents gesagt.  Eine Idee wäre, Drogen zu legalisieren, zum Beispiel Marihuana offen zu verkaufen. Neu ist dieser Vorschlag nicht. Mehrere Ex-Präsidenten aus Lateinamerika haben sich bereits dafür ausgesprochen. Dass sich jetzt aber ausgerechnet ein kolumbianischer Präsident im Amt für die Entkriminalisierung einsetzt, überrascht schon. Denn in Sachen fortschrittlicher Drogenpolitik galt Kolumbien bisher als das Bayern Lateinamerikas.

Erst die Sucht erzeugt die Nachfrage

Ricardo Vargas, Soziologe vom renommierten Transnational Institute in Bogotá, begrüßt den Kurs der Regierung: "Kolumbien war bei der Frage der Legalisierung von Drogen lange sehr zurückhaltend", sagt er. "Aber endlich überlegen auch wir, wenigstens den Anbau und Besitz von Marihuana zu legalisieren, wenn es für den eigenen Konsum bestimmt ist." Vargas forscht seit mehr als zwanzig Jahren über den Drogenhandel. Wenn der Verkauf von bisher illegalen Rauschmitteln zumindest teilweise erlaubt wird, argumentiert er, würden sich viele kriminelle Netzwerke nicht mehr lohnen.

Ricardo Vargas. Foto: Florian Meyer-Hawranek

Drogen sind zwar eine wichtige Geldquelle, etwa zehn Milliarden Dollar soll der Handel pro Jahr einbringen. Doch das zu einem hohen Preis: Mit der Legalisierung, schätzt Vargas, würde die Gewalt abnehmen, weil die Banden nicht mehr um die Verkaufsnetze kämpfen müssten. Drogen würden billiger werden, damit könnte auch die Beschaffungskriminalität zurückgehen und der Staat könnte mehr Geld in Suchtprävention stecken.

Bisher bezieht sich die Diskussion allerdings nur auf Marihuana und nicht auf das im Export viel einträglichere Kokain. "Dabei würde sich es lohnen, auch über die Legalisierung von Kokain nachzudenken", sagt Vargas. Bevor es soweit ist, müsste man aber erstmal offen über die Abhängigkeit in Kolumbien sprechen. Und auch Länder, in denen das Kokain geschnupft wird, müssten ihre Drogenpolitik überdenken und nicht mehr die Produktion im Ausland bekämpfen, sondern die Sucht im eigenen Land thematisieren.

Vargas meint damit vor allem die USA. Aber auch nach Europa haben die Banden aus Lateinamerika ihre Verbindung. Etwa ein Viertel des Kokains, das in Europa konsumiert wird, kommt laut Schätzungen aus Kolumbien. Über den Atlantik gehen die Schmuggelrouten heute zum Großteil über Zwischenstopps in Afrika: Länder wie Senegal, Liberia oder Guinea-Bissau haben sich so zur Drehscheibe des internationalen Kokainhandels entwickelt, warnen die Vereinten Nationen in ihrem Weltdrogenbericht. Über Brasilien und Westafrika wird der Großteil zuerst nach Spanien geschmuggelt und von dort aus auch nach Deutschland weiterverteilt.

Wer gegen das Militär kämpft, verliert

Während die Diskussion über eine neue Drogenpolitik in Kolumbien nun langsam Fahrt aufnimmt, hat der Oberste Gerichtshof bereits im vergangenen Jahr entschieden, dass bis zu 20 Gramm Marihuana für den Eigenbedarf straffrei sind. Uruguay ist jetzt sogar noch einen Schritt weitergegangen und hat als erstes Land Lateinamerikas angekündigt, das Kiffen zu legalisieren.

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Henry Bustamente ist sich nicht sicher, ob die Diskussion über die neue Drogenpolitik wirklich etwas ändern wird. Durch seine dünne Hände sind über die Jahre viele Kilo Kokain gegangen, probiert hat er es nie. Dafür hat er umso öfter mitbekommen, wie brutal die Regierung die Drogenhändler bekämpft. Bei einem Überfall des Militärs auf das Versteck seiner Band hatte er nur wenige Minuten, um sein Gewehr zu packen und zu fliehen. Bevor die Soldaten ankamen, war das Lager leer. Das sei die Strategie der Banden, sagt Henry: Wer gegen das Militär kämpft, verliert. "Die haben Flugzeuge, da haben wir uns lieber versteckt." Mittlerweile ist das auch die Überlebensstrategie von Henry. Er versteckt sich in der Masse,  unter den acht Millionen Einwohnern Bogotás versucht er, nicht aufzufallen.

Henry sitzt neben dem Schulgebäude der Kinderstiftung Benposta. Nebenan probt die Musikgruppe, unter ihm liegt Bogotá in der Abendsonne. Das ist Henry neues Leben. Von seinem alten, sind ihm nur Erinnerungen geblieben und ein Tattoo.