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Auch wenn es die Religion fordert, in Israel lassen Tausende Eltern ihre Kinder nicht mehr beschneiden.
Pro & Contra: Beschneidung aus israelischer Sicht
In Israel sorgt das Urteil des Landgerichts Köln, das Ende Juni die Beschneidung eines vierjährigen Jungen aus religiösen Gründen als strafbare Körperverletzung bewertete, immer noch für große Aufregung. So beschäftigte sich Anfang dieser Woche sogar der Integrationsausschuss des israelischen Parlaments in einer Sondersitzung mit dem Urteil. Der Ausschuss forderte vom Bundestag, die Beschneidung rasch per Gesetz zu erlauben. Gleichwohl gibt es auch in Israel Gegner der Beschneidung. Der Journalist Igal Avidan hat in Israel einen Befürworter und eine Gegnerin der Beschneidung getroffen. Er sprach mit der Computer-Ingenieurin Ronit Tamir, Gründerin der Organisation "Eltern unbeschnittener Kinder" (Kahal), und dem Pädagogen und Religionsforscher Moshe Meir, einem Befürworter der Beschneidung.

Pro: Die Beschneidung schafft Identität

Herr Meir, Sie haben sich im Juni in der Zeitung "Haaretz" für die Beschneidung ausgesprochen, mit der Begründung, "diese Narbe schafft Identität". Was meinen Sie damit?

Moshe Meir (Foto: Igal Avidan): Die Gegner der Beschneidung argumentieren, es sei einem Vater verboten, durch unumkehrbare Schritte die Identität seines Sohnes zu bestimmen. Das bestreite ich: Es ist die Pflicht eines Vaters, seinem Kind eine Identität zu geben, auch wenn der Schritt unumkehrbar ist. Denn so gibt der Vater dem Sohn auch seine Menschlichkeit. Indem Vater und Mutter zum Beispiel dem Kind eine Sprache beibringen, bestimmen sie die Identität des Kindes. Die Beschneidung ist das größte Geschenk, das ein Vater seinem Sohn geben kann, eine Narbe, die seine Identität bestimmt. Ein Kind, das zum Beispiel ohne Namen aufwächst, weil seine Eltern warten wollen, bis er sich selbst als Erwachsener einen Namen gibt, wird mit einem großen Mangel an Identität aufwachsen.

Das Kölner Gericht hielt die Unversehrtheit des Körpers des Neugeborenen für wichtiger als die Religionsfreiheit der Eltern. Wie sehen Sie das?

Meir: Die Beschneidung vermittelt den Männern die Gewissheit, dass sie unvollständig sind. Ich bin meinem Vater dankbar, dass er meinen Körper als unvollkommen gestaltete, weil ich so meine Grenzen kenne. Auch wenn ein unbeschnittener Mann einen höheren sexuellen Genuss erreichen kann als ein Beschnittener, ändert das nichts daran. Man erreicht doch niemals den vollständigen Genuss oder das vollkommene Glück. Die Hybris der Vollkommenheit ist das größte Übel in der Welt. Es ist gut, dass durch die Beschneidung der Körper des Kindes dauerhaft verändert wird. Denn eine Identität ist sehr wichtig. Wer seine Identität ändern will, muss sein Leben lang damit ringen. Wir leben nicht in einem Supermarkt der Identitäten.

Das Kölner Gericht spricht von "rechtswidriger Körperverletzung".

Meir: Es ist gerade gut, einem Kind Grenzen zu setzen, auch wenn es ihm physisch wehtut. Das sage ich als jemand, der seine vier Kinder niemals geohrfeigt, geschweige denn geschlagen hat.

Wie bewerten Sie das Urteil?

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Meir: Diejenigen, die den Pluralismus loben, scheiteren gerade an der Umsetzung. Denn sie lehnen die Andersdenkenden in Deutschland ab und bekämpfen sie rigoros. Sie lehnen Menschen ab, die ihre andere, fremde Identität bewahren wollen. Ich habe eine lange Rechnung mit den Deutschen offen, denn ich trage den Namen meines Großvaters Moshe, den die Deutschen in Auschwitz ermordet haben. Dennoch halte ich das Urteil keinesfalls für antisemitisch. Es ist jedoch sehr schlimm, dass gerade Deutsche, deren Vorfahren versuchten, das jüdische Volk zu vernichten, jetzt Juden daran hindern, ihre jüdische Identität zu realisieren. Ich lebe in Israel, gerade weil ich hier meine Identität leben kann.

 


 

Contra: Die Beschneidung beeinträchtigt die spätere Sexualität des Jungen

Warum haben Sie die Organisation "Eltern unbeschnittener Kinder" gegründet?

Ronit Tamir (Foto: Igal Avidan): Bereits als Teenager habe ich erlebt, wie eine Verwandte während der Beschneidung ihres Neugeborenen traurig außerhalb des Saales stand. Jahre später las ich eine Kolumne in der Zeitung, in der eine Journalistin die Beschneidung als unvermeidlich beschrieb. Zur gleichen Zeit war ich schwanger mit meinem Sohn und beschloss zusammen mit meinem damaligen Mann, den Jungen nicht zu beschneiden. Meine Eltern waren erbost und sahen das als Verrat an der jüdischen Tradition, doch den Jungen liebten sie vom ersten Moment an.

Warum haben Sie Ihren Sohn nicht beschneiden lassen?

Tamir: Weil ich keinen guten Grund dafür fand. Ich bin ungläubig und lehne die religiöse Begründung ab. Die Beschneidung beeinträchtigt später die Sexualität des Jungen. Es ist ein Verstoß gegen das Recht des Kindes auf seinen Körper. Es geht doch nicht um einen medizinisch lebensrettenden Eingriff. Diese schreckliche Beschneidung ist grundlos und wird in Israel zudem von Beschneidern und nicht von Ärzten durchgeführt.

Wie bewerten Sie das Urteil des Kölner Landgerichts?

Tamir: Ich habe gemischte Gefühle, denn auch als Atheistin habe ich Mitgefühl für religiöse Juden. Sie wollen das göttliche Gebot halten, werden aber jetzt daran gehindert. Der Staat darf allerdings die Beschneidung verhindern, weil dieser Eingriff unumkehrbar und zudem nicht ungefährlich ist. Zudem: Jeder kann sich mit 18 Jahren beschneiden lassen, ganz legal, und somit seine Religion frei ausüben.

 Was wollten Sie mit ihrer Organisation erreichen? 

Tamir: Die fünf Familien, die die Organisation "Kalal" im Jahr 2000 gegründet haben, wollten gemeinsam ihre unbeschnittenen Söhne unterstützen. Nach zwei Jahren stellte ich jedoch fest, dass die Menschen, die sich bei "Kahal" meldeten, nicht Eltern von Unbeschnittenen waren. Es waren Eltern, die einen Jungen erwarteten und damit gerungen haben, ob sie ihn beschneiden sollen. Daher treffen sich seither alle zwei Monate bei uns Eltern, die unsicher sind und sich mit Eltern unbeschnittener Kinder austauschen. Themen sind unter anderem, inwiefern unbeschnittene Söhne mit sozialer Ablehnung  zu rechnen haben. Noch mehr befürchten die werdenden Eltern aber eine Ablehnung innerhalb der eigenen Familie.

Wer melden sich eigentlich bei Kahal?

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Tamir: Sie sind überwiegend säkulare Juden, gebildet, um die 30 und kommen aus ganz Israel. Inzwischen waren bei uns schon Tausende. Ich höre zudem von vielen Fällen, in denen Eltern ihre Söhne nicht mehr beschneiden ließen. Es scheint, als ob ein Damm gebrochen ist.