Im Weltkriegs-Museum von Ypern bleibt dem Besucher nichts erspart. Schon in der ersten Schaukabine blickt er direkt in die Gesichter von Leichen. Die 22 Männer wurden bei einem Straßen-Scharmützel abseits der Schützengräben erschossen. Sofort danach lichtete sie ein Fotograf paarweise ab, zur späteren Identifizierung. Die Toten sitzen ordentlich auf Stühlen. Damit sie nicht umfallen, hält jemand sie von hinten an den blutverkrusteten Haaren gepackt.
Das Museum "In Flanders Fields" in Belgien ist eines der bedeutendsten Erinnerungszentren über den Ersten Weltkrieg (1914-1918). Nach mehrmonatigem Umbau ist es jetzt neu eröffnet worden. Es enthält neuere Technik und ist um die Hälfte größer als vorher. Die Organisatoren haben dabei das Jahr 2014 im Blick, in dem sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal jährt.
"Die große Geschichte durch kleine erzählen"
Das Museum bekommt immer noch neues Material. Viele Familien entscheiden sich, Erbstücke zu spenden. Das Städtchen Ypern selbst ist von Erinnerung durchdrungen: Es lag im Zentrum der drei Flandernschlachten. Deutsche und alliierte Truppen lieferten sich in der Umgebung entsetzliche Stellungskämpfe mit Hunderttausenden Toten. Die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht und später wieder aufgebaut.
Heute ist Ypern ein hübsches Urlaubsziel - ein scharfer Kontrast zur düsteren Geschichte. Das Museum liegt in einem prächtigen rekonstruierten Gotik-Gebäude. Es will "die große Geschichte durch kleine erzählen", wie Chefkoordinator Piet Chielens sagt. Er belässt es nicht dabei, die historischen Fakten akribisch genau darzustellen. Überall trifft der Besucher auf Einzelschicksale. Um eine Täter-Opfer-Frage geht es nicht, eher um verbindende Elemente.
Interaktive Technik und visuelles Grauen
Nach den schockierenden Fotos vom Anfang ist der Mittelteil des Museums-Rundgangs etwas leichter zu ertragen. Interaktive Technik kommt zum Einsatz. An einer Stelle gibt der Besucher sein Alter und seine Heimatregion in einen Computer ein - und erhält die realen Daten eines Landsmannes, der damals im etwa gleichen Alter in den Krieg zog. Später wird der Computer Begegnungen erzeugen, indem er Soldaten der Gegenseite samt Lebensgeschichte heraussucht.
Sofern sie in der Nähe von Ypern auf einem der Soldatenfriedhöfe begraben liegen, kann der Museumsgast sie sogar besuchen. Er kann auch Nachforschungen über seine eigenen Verwandten anstellen, wobei die Zusammenarbeit mit deutschen Archiven noch weiter ausgebaut werden soll. Der Besucher erfährt außerdem etwas über bekannte Kriegsteilnehmer: Adolf Hitler etwa oder Ludwig Erhard.
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Dann schlägt das visuelle Grauen erneut zu. Wieder eine Schaukabine, wieder zerstörte Gesichter auf Fotos. Diesmal handelt es sich nicht um Leichen, sondern um Überlebende. Es sind Menschen mit Kratern in der Stirn, mit weggeschossenen Augen, mit grotesk verschobenen Knochen.
Dieser Teil der Ausstellung habe besonders viel Reflektion erfordert, sagt Koordinator Piet Chielens. Einerseits habe man die Realität ehrlich zeigen wollen. Andererseits sei es darum gegangen, eine "Pornografie des Leidens" zu vermeiden. Wie also die Kabine konzipieren?
Als Lösung wurden die Bilder hoch unter der Decke aufgehängt, so dass der Betrachter in unbequemer Haltung hinaufschaut. "Es sollte auch ruhig der Eindruck entstehen: Wenn ein Bild hinunterfällt, ist das eigene Gesicht kaputt", sagt Chielens. Das Licht in der Kabine ist nicht besonders hell, es spielt eine ruhige Musik. "Wir wollten einen abgeschirmten Raum schaffen, in dem der Besucher sehr auf sich gestellt ist."
"Für mich ist ein 'boche' immer noch ein 'boche'
Für kleine Kinder ist das nichts. Schulklassen besuchen das Weltkriegs-Museum immerhin ab etwa zwölf Jahren. Eltern sollten vorsichtig sein und ihre Kinder unter Umständen nicht überall hineinlassen, sagt Chielens. Beim jüngeren Publikum scheinen die Exponate generell unterschiedlich anzukommen: Eine kleine Engländerin bricht beim Anblick eines Pferdes mit aufgeschnallten Granaten in Tränen aus. Ein junger Brite erklärt seiner interessiert lauschenden Schwester die verschiedenen Waffentypen.
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Ein beleibter Mann aus Belgien gibt indessen lautstark zu verstehen, dass er die Deutschen nach wie vor nicht mag: "Für mich ist ein 'boche' immer noch ein 'boche'", knurrt er. Die herablassende Bezeichnung für die Deutschen wurde vor allem in der Zeit der Weltkriege verwendet. "Sie haben Subventionen bekommen, um ihr Land wieder aufzubauen, und heute wollen sie Europa beherrschen", schimpft der Belgier.
Museumsleiter Chielens guckt etwas betreten während der Tirade. Für ihn steht die Völkerverständigung im Vordergrund. Im Museum hat er darauf geachtet, dass die Gesamtstimmung gegen Ende heller und hoffnungsvoller wird. Er ist überzeugt, dass die europäischen Länder in Zukunft noch enger zusammenrücken werden: "Irgendwann wird man von diesem Krieg als europäischem Bürgerkrieg sprechen", sagt er.