Christian eckte bei allen an. Zu Hause gab es ständig Streit, seine jüngere Schwester hatte Angst vor den Wutanfällen ihres elfjährigen Bruders. In der Schule mieden ihn seine Klassenkameraden, weil er schnell zuschlug. Als er nach einer Prügelei auf dem Schulhof vor dem Schulverweis stand, suchten seine Eltern Hilfe beim Kinderarzt. Die Diagnose fiel eindeutig aus: Christian hat ADHS, das sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom. Fünf bis zehn Prozent aller Kinder sind davon betroffen, Jungen viermal häufiger als Mädchen.
Wissenschaftler vermuten, dass bei ADHS-Kindern die Informationsverarbeitung zwischen verschiedenen Abschnitten im Gehirn nicht richtig funktioniert. Sie gehen davon aus, dass der Stoffwechsel der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin gestört ist, die wichtig sind für Aufmerksamkeit, Antrieb und Motivation. Die Kinder können sich deshalb nur schwer konzentrieren und Wichtiges schlecht von Unwichtigem unterscheiden. "Sie sind rastlos, springen zu unpassenden Momenten - etwa mitten in der Klassenarbeit - von ihren Stühlen auf und rufen im Unterricht ständig rein", sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Özgür Albayrak, der am Uniklinikum Duisburg-Essen die ADHS-Sprechstunde leitet.
Zu viel Fernsehen und Computer?
"Ein nicht diagnostiziertes ADHS wirkt sich meistens gravierend negativ auf die Schulleistungen aus, da das betroffene Kind aufgrund der motorischen Unruhe, der Impulsivität und der Aufmerksamkeitsstörung nur sehr schlecht in der Lage ist, adäquat zu lernen", sagt auch Christoph Wewetzer, der die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße in Köln leitet.
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Kaum eine Diagnose ist in der Öffentlichkeit so umstritten wie ADHS. Kritiker bezeichnen sie gern als eine Verlegenheitsdiagnose, die erst in den letzten Jahrzehnten aufgekommen sei, um unruhige und schwierige Kinder zu kategorisieren. Tatsächlich wurde 1991 bei nur 1.500 Kindern und Jugendlichen ADHS attestiert. Heute leiden nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts 600.000 junge Menschen daran.
"Ich glaube nicht, dass es heute mehr ADHS-Patienten im Kindes- und Jugendalter gibt als früher", sagt Wewetzer dazu. Er glaubt, dass heute viel genauer geschaut und besser diagnostiziert wird. Auch Albayrak sagt: "ADHS ist jetzt einfach mehr im Fokus."
Tatsächlich ist das "Zappelphilipp-Syndrom", so der volkstümliche Name, keine wirklich neue Erscheinung. Der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann beschrieb es schon 1845 in seinem "Struwwelpeter". Wewetzer glaubt jedoch, dass es ADHS-Kinder heute schwerer haben: "Kinder waren früher in ihrem Freizeitverhalten viel aktiver, heute sitzen sie sehr viel mehr und häufiger vor dem Fernseher oder am PC."
Ritalin: Plötzlich sind die Kinder "wie normal"
Ist ADHS einmal diagnostiziert, soll eine Therapie bewirken, dass das Kind im Alltag besser zurechtkommt. Hier kann eine Psychotherapie helfen. Typisch für ADHS ist, dass alle Lebensbereiche betroffen sind. "Sonst ist es kein ADHS, sondern etwas anderes", sagt Albayrak.
Auch eine medikamentöse Behandlung kann nötig sein, etwa mit Ritalin. "Es stimuliert die Gehirnaktivität dieser Kinder, was dazu führt, dass sie sich besser organisieren können", sagt Wewetzer. In einem Internetforum für ADHS-Kinder schreibt eine Mutter: "Ohne Ritalin ist unser Sohn völlig überdreht, springt rum wie ein Flummi und hat immer 150 Prozent Power". Mit Ritalin sei er dann wieder "wie normal". In der Regel wird Ritalin vor der Schule gegeben, da die Wirkung nur einige Stunden anhält und die Kinder sich im Unterricht besser konzentrieren sollen. Auch Christian erhält nun Ritalin und kommt deutlich besser in der Schule zurecht.
Doch Ritalin hat auch Nebenwirkungen: Es hemmt den Appetit und kann zu Müdigkeit und Übelkeit führen. Gegner des Medikamentes kritisieren, dass es zu schnell eingesetzt wird und es keine ausreichenden Langzeitstudien zu den Folgen auf die kindliche Psyche gibt. Wewetzer meint dagegen: "Es ist ein extrem gut untersuchtes und wirksames sowie verträgliches Medikament."