Gerade einmal zehn Jahre ist es her, dass Sam Raimi mit "Spider-Man" einen der populärsten Helden aus dem Marvel-Comic-Universum auf der Leinwand zum Leben erweckt hat. Zusammen mit zwei weiteren Sequels nahm das Unternehmen in den folgenden Jahren weltweit insgesamt fast 2,5 Milliarden Dollar ein. Kurz nach der Jahrtausendwende gehörte Spider-Man zu den wenigen Filmen, die die kreativen Möglichkeiten der digitalen Bildproduktion voll ausschöpften, ohne jedoch den Figuren mit Hightech-Muskelspiel die Luft zum Atmen zu nehmen. Künstlerischer Anspruch und auf den breiten Massengeschmack ausgerichtete Attraktion gingen in der "Spider-Man"-Trilogie eine ungewöhnlich harmonische Koalition ein.
Nun konnten die Finanzstrategen im Hause der Produktionsfirma Sony der Versuchung nicht widerstehen, die Gelddruckmaschine noch einmal anzuwerfen. Schließlich sind in harten Zeiten wie diesen sichere Investmentmodelle schwer zu finden. Statt die Geschichte von "Spider-Man" weiterzuspinnen, haben sie sich aber dazu entschlossen, noch einmal zurück auf Anfang zu spulen: "The Amazing Spider-Man" erzählt einfach noch einmal neu, wie sich der scheue High-School-Schüler Peter Parker durch einen Spinnenbiss in einen Superhelden verwandelt. Doch obwohl der Stoff so bekannt ist, lohnt sich in diesem Fall die Neubesichtigung.
Das liegt zum einen an der Regie von Marc Webb (sein bekanntester Film war der Indie-Erfolg "(500) Days of Summer"). Webb erzählt die Geschichte des Helden wider Willen in einem sehr viel realistischeren Setting als die Vorgängerfilme, womit er auch die Psychologisierung der Figur vorantreibt und die fast schon melodramatischen Qualitäten der Story deutlich herausarbeitet. Zum anderen setzt die Wahl von Andrew Garfield ("Social Network", "Alles was wir geben mussten") als Hauptdarsteller neue, interessante Akzente in der Figur des Spider-Man. Immer wieder wird er im neuen Film aus der Superheldenecke herausgelockt und legt dabei ein ungewöhnlich hohes Maß an Verletzlichkeit an den Tag.
Dieser Peter Parker ist nicht nur der nette, schüchterne Junge von nebenan, wie ihn Tobey Maguire gespielt hat, sondern eine sichtbar geplagte Seele, die unter dem traumatischen Verlust der Eltern auch als Heranwachsender noch schwer zu leiden hat. Der Familiengeschichte wird in "The Amazing Spider-Man" deutlich mehr Raum gegeben. Heruntergekürzt wurden hingegen die romantischen Verwicklungen zwischen dem schüchternen Peter und der smarten Mitschülerin Gwen (Emma Stone). Auch fällt die visuelle Textur von The Amazing Spider-Man sichtbar düsterer aus als die farbenprächtigen, surreal anmutenden Bilderwelten Sam Raimis.
Atmosphärische Spuren der Post-9/11-Ära
War der erste Teil der Trilogie noch vor dem 11.September 2001 fertig gestellt worden, trägt die Neuinszenierung nun deutlich die atmosphärischen Spuren der Post-9/11-Ära. Manhattan ist hier nicht bloß eine Kulisse, durch deren Häuserschluchten sich Spider-Man schwingen kann, sondern ein verletzlicher urbaner Körper, dessen Herz – der weithin sichtbare gläserne Häuserkoloss von der Gen-Tech-Firma »Os-Corp« – im Kampf zwischen Gut und Böse schwer in Mitleidenschaft gezogen wird. Insgesamt ist Marc Webb mit "The Amazing Spider-Man" eine sehr zeitgemäße Version des Comic-Klassikers gelungen, die mit einem stringenten ästhetischen Konzept und differenzierter Figurengestaltung auf eigenen Beinen steht.
USA 2012. R: Marc Webb. B: James Vanderbilt, Alvin Sargent. Da: Andrew Garfield, Emma Stone, Rhys Ifans, Martin Sheen, Sally Field, Denis Leary. L: 136 Min. FSK 12.