Foto: dpa/Richard Linke
Rentner auf dem Friedhof.
Reden mit den Lebenden - am Ort der Toten
Auf dem Friedhof kann man leichter reden. Über das Neueste aus dem Dorf, über Gott und die Welt - aber auch über Sterben, Trauer und Tod. So manche Grabbesucherin fühlt sich nach dem Gang auf den Friedhof getröstet.

Helene Stöckel lebt in Tirol. Wann immer sie nach Deutschland kommt, führt sie ihr erster Weg auf den Friedhof. An das Grab ihrer Eltern, in einer Gemeinde im Main-Kinzig-Kreis. Der Ort ist kaum größer geworden, seit die heute 76-Jährige ihn verlassen hat. Das ist viele Jahre her. Wann genau sie weggezogen ist, sie weiß es nicht genau – oder will es nicht erinnern. Wenn Helene Stöckel mit ihrem Lebensgefährten über Stunden die letzte Ruhestätte ihrer Eltern pflegt, dann sucht sie an dem Ort der Toten auch das Gespräch mit den Lebenden.

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Mit der Arbeitskollegin von einst, die nur wenige Schritte entfernt die Blumen auf dem Grab ihrer Schwester gießt. Mit der Mutter, deren Sohn sich das Leben genommen hat. Mit den Eltern einer jungen Frau, die bei einem Autounfall tödlich verunglückt ist. Eine Verabredung mit ihnen macht sie nicht aus. "Auf dem Friedhof in einem kleinen Ort ist meistens jemand da, mit dem man reden kann." Jemand, der auch den Verlust eines Menschen erlebt hat.

Wie Hannah, die 77-Jährige aus der Taunusgemeinde Wehrheim, die ihren vollständigen Namen nicht sagen möchte. Vor zwölf Jahren starb ihr Mann. "In den ersten Monaten nach der Beerdigung bin ich täglich auf den Friedhof gegangen. Da hab' ich viel Zuspruch in meiner Trauer erfahren und so manches gehört, was man weder im Fernsehen sieht oder im Radio hört und noch nicht einmal in der Lokalzeitung liest." Sie lacht: "Wer will denn auch schon wissen, dass die Katja wieder schwanger ist." Doch durch diese persönlichen, privaten Nachrichten fühlte sich Hannah weiterhin zur Dorfgemeinschaft zugehörig. "Und ich war mit meinem Schmerz nicht allein."

"Gräber erzählen Geschichte(n)"

Die Menschen, die an den Führungen von Christian Setzepfandt über den Frankfurter Hauptfriedhof teilnehmen, kommen nicht, um die Ruhestätte eines Verwandten oder Freundes zu besuchen. Sie möchten mehr über Leben, Wirken und Sterben berühmter Persönlichkeiten wissen, die auf dem größten Frankfurter Gottesacker bestattet sind. Denn "Gräber erzählen Geschichte(n)" weiß Christian Setzepfandt, der seit mehr als 30 Jahren die Rundgänge über den Frankfurter Hauptfriedhof anbietet.

Die meisten Menschen, die an diesem speziellen Angebot seines "KulTour"-Programms teilnehmen, kommen, weil sie sein Fachwissen schätzen. Weil er profund aus dem Leben berühmter Persönlichkeiten wie des Philosophen Theodor W. Adorno oder Arthur Schopenhauer, der Schriftstellerin Ricarda Huch oder des Kabarettisten Matthias Beltz zu berichten weiß. Und auch vom Paulinchen, dem Mädchen, das mit den Zündhölzern spielte und dem der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann in seinem Buch "Struwwelpeter" ein literarisches Denkmal setzte.

Die Scheu vor dem Tod ist der Neugier gewichen

Mehr als drei Jahrzehnte, in denen das Bedürfnis über das Thema "Sterben und Tod" zu sprechen nicht nachgelassen hat. Im Gegenteil: Für Setzepfandt steht fest, dass "die Scheu im Umgang mit dem Thema Sterben und Tod der Neugier gewichen ist", der Suche nach neuen Formen für das Abschiednehmen, nach einer persönlichen Gestaltung für die letzte Ruhestätte.

Jutta Dürrbeck hat sich in Hamburg viele Jahre für den Ohlsdorfer Friedhof engagiert. "Weil es so ein wunderbarer Ort ist, der einem Ruhe vermittelt." Die Beamtin ist viel auf Reisen – und hat dabei festgestellt: "Friedhöfe gehören in den Reiseführern nicht zu den "Sehenswürdigkeiten" eines Landes." Dabei ist für sie der Umgang mit Sterben und Tod "ein fester Bestandteil von Kultur".

Die Mitfünfzigerin erinnert sich an einen Urlaub in Rumänien: "Während der Tour baten meine Freundin und ich den Reiseleiter um einen kleinen Stopp, um auf einen Friedhof zu gehen. Wir rechneten mit Protest der Mitreisenden." Er blieb aus. "Fast alle gingen zu den Gräbern, zu den letzten Ruhestätten von Menschen, die ihnen völlig unbekannt waren." Danach hätten sich die Gespräche verändert, stellt Jutta Dürrbeck fest. Sie seien viel persönlicher geworden. "Jeder hatte in seinem Umfeld Erfahrungen mit Krankheit, Sterben und Tod."

Die Stille kann die Sprache verändern

Bruder Harald von der Gemeinde der katholischen Frankfurter Liebfrauenkirche kommt an diesem Novembermorgen gerade von einer Beerdigung zurück. "Jeder endgültige Abschied ist auch mit Kommunikation verbunden. Oft treffen sich Menschen, die sich jahrelang nicht gesehen haben, erst auf der Beerdigung eines Freundes oder Verwandten wieder, sagt er. "Sie teilen mit diesem ein Stück ihres Lebens". Viele hätten das Bedürfnis, sich mit anderen Hinterbliebenen über ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Verstorbenen auszutauschen. "Für manche ist es am Grab das erste Mal."

Trotz Zurufen und Bitten hält der ältere Mann auf dem Friedhof der Wipertikirche im thüringischen Quedlinburg nicht inne. "Auch wenn Sie hier an dem Ort der Stille niemanden hatten, der mit Ihnen gesprochen hat. Dass Sie hier waren, wird Ihre Sprache verändern." Mehr will er nicht sagen. Auch ohne viele Worte können Friedhöfe Stätten der Kommunikation sein. Helene Stöckel hofft dennoch, dass sie beim nächsten Besuch am Grab ihrer Eltern wieder auf Menschen trifft, mit denen sie über die Toten sprechen kann – und die Lebenden.