Glaubenskampf um das Betreuungsgeld
Auch die vorläufig letzte Bundestagsdebatte zum Betreuungsgeld verläuft heftig und emotional. Merkel-Herausforderer Steinbrück nennt das Gesetz "schwachsinnig". Die CSU triumphiert, die FDP ist bemüht, das Gesicht zu wahren. Die Diakonie kritisiert das Gesetz und fordert statt dessen gleiche Bildungschancen für alle Kinder.
09.11.2012
epd/evangelisch.de
Bettina Markmeyer

Auffällig war am Freitag im Bundestag vor allem, wer aus dem Regierungslager nicht das Wort ergriff. Die Kanzlerin sagte nichts zum Betreuungsgeld, ebenso wenig Familienministerin Kristina Schröder (CDU), die das Gesetz erarbeiten musste und auch nicht Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), die zu früheren Zeiten nicht hinterm Berg gehalten hatte mit ihrer Ablehnung.

So hatte der Merkel-Herausforderer Peer Steinbrück (SPD) zwar viel Publikum auf der Regierungsbank, aber keinen richtigen Sparrings-Partner, als er die Debatte mit einem Frontalangriff auf das Gesetz eröffnete: "Es ist schwachsinnig", befand der Kanzlerkandidat der SPD.

In der namentlichen Abstimmung im Anschluss an die anderthalbstündige, emotionale Debatte stimmten Union und FDP dann fast geschlossen für das Betreuungsgeld. 310 gaben Ja-Stimmen ab, 282 stimmten mit Nein, darunter zwei aus der Union und vier aus der FDP-Fraktion. Die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper (FDP) hatte ihr Nein vorher angekündigt. 26 Abgeordnete nahmen an der Abstimmung nicht teil, zwei enthielten sich der Stimme.

"Dankbare Briefe" von Eltern an CSU-Abgeordnete

Bevor Steinbrück redete, hatte die familienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion und stellvertretende CSU-Vorsitzende, Dorothee Bär, das Betreuungsgeld unter Zu- und Buhrufen aus der Opposition tapfer verteidigt. Die Politik müsse sich auch für die Eltern einsetzen, die ihre Berufstätigkeit unterbrechen, sagte Bär, selbst Mutter dreier Kinder, davon zwei im Betreuungsgeld-Alter. Sie erhalte dankbare Briefe von Eltern, dass die CSU in diesem Punkt hartnäckig geblieben sei.

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Das Betreuungsgeld sei bildungs-, finanz-, gesellschafts- und arbeitsmarktpolitisch falsch, legte Steinbrück anschließend los. Es zementiere ein überholtes Rollenverständnis, mindere die Chancen von Frauen im Beruf und die Bildungschanchen benachteiligter Kinder. Genüsslich zitierte er CDU-Arbeitsministerin von der Leyen, die das Betreuungsgeld früher eine Katastrophe genannt habe und den FDP-Generalsekretär Patrick Döring, der erklärt habe, es passe nicht in die Zeit.

Der Kanzlerin hielt Steinbrück vor, keinen politischen Kompass und keine Vision für die Zukunft Deutschlands zu haben. Sie folge einem Pragmatismus, der nur dem Erhalt der Macht diene. Das von der CSU durchgesetzte Betreuungsgeld sei "eine Gefälligkeit an den Koalitionspartner". Der FDP warf Steinbrück "Selbstverleugnung" vor und kündigte an, das Betreuungsgeld im Fall eines Wahlsiegs der SPD sofort wieder abzuschaffen.

Trittin: "Wir schmeißen das Geld aus dem Fenster"

Das Betreuungsgeld war nach langem Streit in der schwarz-gelben Koalition beim Koalitionsgipfel in der Nacht zum Montag endgültig vereinbart worden. Es soll ab August 2013 gezahlt werden an Eltern, die ihr Kind nicht in eine staatlich geförderte Tagesbetreuung geben. Sie bekommen 2013 zunächst 100 Euro im Monat, ab 2014 dann 150 Euro für ein- und zweijährige Kinder.

Die FDP-Fraktion überließ es ihrem bildungspolitischen Sprecher Patrick Meinhardt, das Betreuungsgeld zu verteidigen. Der Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle, der in den Monaten zuvor die Vertragstreue der Liberalen betont hatte, beschränkte sich aufs Zuhören. Meinhardt versuchte, Steinbrück mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Die SPD habe dem Betreuungsgeld in der großen Koalition zugestimmt im Gegenzug zum Ausbau der Kleinkindbetreuung. Steinbrück selbst, damals Finanzminister, habe das als "vernünftigen Kompromiss" verkauft, sagte Meinhardt.

Für die Grünen verriss ihr Fraktionschef Jürgen Trittin das Gesetz. Es sei "Wahlkampf für Bayern". Das Betreuungsgeld koste 1,2 Milliarden Euro im Jahr: "Sie predigen dem Rest Europas Sparsamkeit und schmeißen hier das Geld aus dem Fenster", hielt Trittin der Kanzlerin vor. Das Geld fehle beim Kita-Ausbau.

Diakonie: "Notwendig sind Investitionen in Bildung"

Die Diakonie bezeichnete das Betreuungsgeld-Gesetz als "Mogelpackung". Maria Loheide, sozialpolitischer Vorstand der Diakonie Deutschland, sagte: "Die Bundesregierung investiert Millionenbeträge in die Nicht- Inanspruchnahme von Bildungseinrichtungen, statt allen Kindern gleiche Chancen zu gewährleisten."

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Lohheide kritisierte außerdem die Möglichkeit, das Betreuungsgeld mit Sparen zu verknüpfen. Nach dem Willen der Koalition sollen Eltern den Betrag auch in eine Riester-Rente oder in einen Bildungssparvertrag für ihr Kind einzahlen können. Sie bekommen dafür einen monatlichen Zuschlag von 15 Euro. "Notwendig sind Investitionen in Bildungseinrichtungen und nicht in private Sparbücher", sagte Lohheide zu diesem Vorschlag. 

"Bildung ist ein Grundrecht, das unabhängig von Einkommen und Lebenssituation allen Kindern zu Gute kommen muss. Hartz IV-Familien profitieren weder vom Betreuungsgeld noch von der Sparzulage", sagt Loheide und fordert ein bedarfsgerechtes Angebot frühkindlicher Bildung, dass von allen Familien mit Kindern in Anspruch genommen werden könne, die das wollten.

Die aktuellen Zahlen aus dem Statistischen Bundesamt zeigten, dass der Rechtsanspruch für Kinder unter drei Jahren auf einen Kita-Platz noch unwahrscheinlicher sei als bisher angenommen. "Da werden Eltern, die dringend einen Platz in einer Kindertageseinrichtung benötigen, im Regen stehen gelassen, während die Bundesregierung gleichzeitig Finanzmittel an Eltern weiter leitet, die darauf überhaupt nicht angewiesen sind", sagte Maria Lohheide.

Das Statistische Bundesamt hatte Anfang der Woche bekanntgegeben, dass 220.000 Kleinkind-Plätze fehlen, 60.000 mehr als angenommen. Ab August 2013 haben Eltern einen Rechtsanspruch auf einen solchen Patz. Die Diakonie fordert Bund und Länder auf, kurzfristig Lösungen für fehlende Plätze zu schaffen.

Zollitsch für "Wahlfreiheit"

Von Seiten der katholischen Kirche kam dagegen Zustimmung zum Betreuungsgeld. Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, sagte im Interview der "Hannoverschen Allgemeinen": "Es ist doch grundsätzlich eher ein Fortschritt, wenn Eltern die Möglichkeit haben, zwischen unterschiedlichen Familienmodellen auszuwählen."

Zollitsch kritisierte die Pläne der Opposition, gegen das Betreuungsgeld zu klagen. "Das finde ich bedauerlich, denn es bleibt eine politische Entscheidung und keine Verfassungsfrage, das Betreuungsgeld einzuführen", sagte er der Zeitung. Der Erzbischof kritisierte, die politische Debatte sei zu einer Art Glaubenskampf geworden. 

Nach einer am Freitag in Köln von der ARD veröffentlichten Umfrage lehnt die Mehrheit der Deutschen das Betreuungsgeld ab. 59 Prozent der Befragten sprachen sich gegen die Geldleistung aus, 39 Prozent dafür. Das Institut Infratest dimap befragte im Auftrag der ARD-"Tagesthemen" von Montag bis Mittwoch 1.505 Wahlberechtigte bundesweit am Telefon.