Klarer Fall, die Kummerkasten-Psychologin der Frauenzeitschrift weiß Bescheid: "Wenn Sie intolerant sind, werden Sie sich damit nicht viele Freunde machen", schreibt sie. Da wird ihr auf den ersten Blick kaum jemand widersprechen, ist ja auch ein Allgemeinplatz, irgendwie. Und doch ist das prinzipiell eigentlich falsch!
Denn das Wesen von Freundschaft ist ja, dass man sich die Menschen, zu denen man eine enge Beziehung pflegt, mit denen sich so etwas wie zwischenmenschliche Nähe einstellt, die belastbar und im Idealfall langanhaltend ist, sorgfältig aussucht. Antoine de Saint-Exupéry lässt in seinem Klassiker vom kleinen Prinzen nicht ohne Grund den Fuchs sagen: "Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!" Und nicht nur das. Der schlaue Fuchs behauptet sogar: "Man kennt nur das, was man zähmt!"
Freundschaften sind Arbeit
Und dieses Zähmen kostet Zeit, Energie und Gehirnschmalz. Das weiß jeder: Freundschaften, Beziehungen sind Arbeit. Auch das ist wiederum ein Allgemeinplatz, irgendwie. Aber es ist in diesem Fall auch wissenschaftlich untersucht und belegt.
Sowohl in der Psychologie als auch in der Evolutions- und der Neurobiologie geht man davon aus, dass der Mensch prinzipiell nur in der Lage ist, sich um eine ganz begrenzte Zahl von anderen Menschen zu kümmern – in emotionaler und kognitiver Hinsicht. Sprich: Wir nehmen nur einen ganz bestimmten Kreis von Mitmenschen wirklich als solche wahr. Alle, die darüber hinaus gehen, sind uns eigentlich egal. Das ist auch die Erklärung dafür, dass wir uns um die Nachbarin, deren Hund gerade gestorben ist, mitfühlend ###mehr-artikel### kümmern, während die Erdbebenopfer in Pakistan zwar unser Mitleid bekommen - uns aber nicht wirklich anrühren oder gar erschüttern. Diese nämlich befinden sich außerhalb unserer 'Monkeysphere'. So wird der Kreis der Personen innerhalb unseres Aufmerksamkeitsspektrums in Anlehnung an einen so betitelten satirischen Artikel des amerikanischen Autors David Wong genannt. Den Begriff 'Monkeysphere' benutzt Wong deshalb, weil er sich auf den Anthropologen und Biologen Robin Dunbar bezieht, der eine Reihe von Experimenten mit Primaten machte. Anhand dieser Experimente konnte Dunbar einen Zusammenhang zwischen der Größe der Großhirnrinde und der Größe der Gruppe, mit der soziale Beziehungen unterhalten werden können, nachweisen. Aus diesem Zusammenhang wiederum bestimmte er relativ eindeutig die Zahl an Personen, mit der ein einzelner Mensch in irgendeiner Form soziale Kontakte zu pflegen in der Lage ist: 148 – die sogenannte 'Dunbar-Zahl' (oft ist auch von 'etwa 150' oder '100-230' die Rede).
Ein Mensch kann sich um rund 150 Personen kümmern
Tatsächlich gibt es eine Reihe von Hinweisen und Auffälligkeiten, die diese These zusätzlich zu untermauern scheinen: Circa 150 Personen umfasste die typische Gruppe in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, etwa 150 Personen lebten auch durchschnittlich in den Dörfern im England des elften wie des 18. Jahrhunderts. Die Hutterer oder Amish People teilen ihre Gemeinden auf, wenn sie 150 Menschen umfassen, damit sie weiterhin ohne sozial-hierarchische Kontrollapparate funktionieren. Auch der Funktionstextilienhersteller Bill Gore erweiterte nicht seine Fabriken, als das Auftragsvolumen stieg, sondern baute nebenan eine neue, völlig unabhängige und in sich geschlossene Fabrik mit je rund 150 Mitarbeitern. Ein Erfolgsmodell: Dies nämlich hat eine Arbeitsgemeinschaft zur Folge, innerhalb derer jeder jeden kennt und in der es keiner formalen Systeme für die verschiedenen Führungsebenen bedarf. Aus diesem Grund haben auch die schwedischen Steuerbehörden ihre Strukturen bei einer Reorganisation vor einigen Jahren auf eine Gruppengröße von 150 Mitarbeitern festgelegt. Oder das Militär: Die kleinste taktische Einheit eines römischen Heeres, das Manipel, hatte eine Stärke von 160 Mann. Und bei nahezu allen modernen Armeen stellt den Kern – die Einheit, der sich der Einzelne auch am ehesten zuordnet - die Kompanie dar: mit 120 bis 180 Leuten.
Offensichtlich hat sich die 'Dunbar-Zahl' in den verschiedensten Zusammenhängen durchgesetzt. Der Wirtschaftsinformatiker und Psychologe Michael Rueetschli fasst zusammen, dass sie in Privatbeziehungen "die Zahl von Menschen ist, zu denen man in einer Beziehung steht, die reziprok ist (ich helfe dir und weiß, dass du mir hilfst) und eine Geschichte hat (wir beide wissen, wie und warum wir uns kennengelernt haben)."
Auch bei sozialen Netzwerken ist die Anzahl der Freunde begrenzt
Wer jetzt einwendet, dass das alles in Zeiten von Facebook und Twitter mit gerne mal (theoretisch) tausenden von Freunden und Followern ja doch wohl mittlerweile überholt sei, den lehrt eine Untersuchung von Dr. Cameron Marlow das Gegenteil: Dieser Soziologe ist direkt bei der Firma Facebook beschäftigt und hat vor drei Jahren in einer statistischen Erhebung im Auftrag des Wirtschaftsblatts 'The Economist' heraus gefunden, dass der Durchschnitt der 'Freunde' in diesem sozialen Netzwerk tatsächlich bei Männern bei 120, bei Frauen bei ein paar mehr liegt. Und für Twitter haben im vergangenen Jahr Informatiker der Indiana University in einem hochkomplizierten Untersuchungsverfahren eruiert, dass die Nutzer de facto maximal zwischen 100 und 200 'stabile Beziehungen' mittels des Kurznachrichtendienstes unterhalten. Prof. Manfred Spitzer von der Ulmer Uni-Klinik kommt angesichts dieser Erkenntnisse zu dem Schluss: "Internetbasierte soziale Netzwerke haben also kaum einen Einfluss auf die Zahl unserer wirklichen Freunde, sie ändern lediglich die Zahl unserer zufälligen Bekanntschaften."
###mehr-links### Und die Zahl derer, die wir 'wirkliche Freunde' nennen, ist ja ohnehin noch viel geringer als die 148 Personen in unserer 'Monkeysphere': Fünf davon sind sehr enge und weitere zehn gute Freunde, 35 'Einfach-nur-Freunde' und der Rest Bekannte, davon ist wohl nunmal auszugehen. Auch wenn noch nicht restlos geklärt ist, warum unsere sozialen Beziehungen derart beschränkt sind, ist – außer der Leistung des Neocortex, wie Dunbar es beschrieben hat – wohl die Zeit noch ein wesentlicher Faktor: Die Qualität einer Beziehung hängt davon ab, wieviel und wie lange man sich ihr widmen kann, wie intensiv man sie pflegen kann. Das Budget an Zeit aber wiederum ist begrenzt.
Freundschaft bedeutet Diskriminierung der Nicht-Freunde
Und damit wären wir wieder beim Fuchs und beim kleinen Prinzen. Der Fuchs nämlich weiß genau um diese Schwierigkeit, wenn er sagt: "Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgend etwas kennenzulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. (…) Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig."
Was aber hat das alles denn nun mit Intoleranz zu tun? Ganz einfach - die These ist: Weil private Beziehungen und Freundschaften solchen Limitierungen unterworfen sind, leistet man sich hier den Luxus von Intoleranz. Jeder Mensch sucht sich diejenigen aus, die er 'zähmt', zu denen er die Beziehungen aufwändig pflegt, für die er Zeit opfert, sich verantwortlich fühlt und denen er entsprechend nahe ist. Und diese Personen sucht er sich danach aus, ob sie zu ihm passen, ob ihre Einstellungen, Vorlieben und Interessen mit den seinigen vereinbar sind oder ihn zumindest interessieren und als Person ergänzen. Alle anderen fallen 'hinten runter'. Überspitzt formuliert bedeutet Freundschaft Diskriminierung der Nicht-Freunde.
Beste Freunde-Verbot an britischen Schulen
Dass das nicht ganz so absurd ist, wie es klingt, hat im Frühjahr diesen Jahres das britische Boulevard-Blatt "The Sun" belegt: Es berichtete von mehreren Fällen, in denen Schulen in Kingston, West London und Surrey Grundschulkindern explizit 'beste Freunde' verboten. Stattdessen wurden sie von Lehrkräften dazu angehalten, eher in größeren Gruppen zu spielen (offiziell, um den Schmerz einer späteren Trennung vom geliebten Spielkameraden zu vermeiden).
Und illustriert man das Ganze mit Beispielen, erscheint es doch einfach auch nur plausibel, dass sich Hundehasser wohl kaum freiwillig in eine enge Beziehung mit Hundeliebhabern begeben, dass ökologisch Bewegte nur sehr selten Freunde unter Motorfanatikern finden undsoweiterundsofort: Strukturell ist das Intoleranz! Das wird auch schon beim kleinen Prinzen ganz klar gesagt. Der in 'seine' Rose Vernarrte nämlich begegnet nach dem kleinen Freundschafts-Intensivkurs durch den Fuchs den anderen Rosen außerhalb seiner 'Monkeysphere' gegenüber reichlich intolerant, wenn er ihnen an den Blüten-Kopf wirft: "Ihr seid schön, aber ihr seid leer." Und weiter: "Man kann für euch nicht sterben. Gewiss, ein Irgendwer, der vorübergeht, könnte glauben, meine Rose ähnle euch. Aber in sich selbst ist sie wichtiger als ihr alle, da sie es ist, die ich begossen habe. (…) Da es meine Rose ist."
Toleranz hat nichts mit Verständnis zu tun
Im Übrigen würde eine tolerante Haltung den armen Rosen auch nicht mehr Wertschätzung entgegenbringen. Denn prinzipiell ist Toleranz in ihrem Ursprung ja von Verständnis oder gar Achtung weit entfernt. "Sie ist ihrem Wesen nach Duldung", erklärte der Historiker Johannes Bronisch unlängst auf ntv.de. Er hat sich mit der Geschichte der Toleranz beschäftigt und führt aus: "Toleriert werden kann nur das, was man für falsch hält, aber aus bestimmten Gründen zulassen muss oder darf."
Grenzen setzen
So lässt sich also zusammenfassend sagen, dass es – entgegen des gut gemeinten Ratschlags der Kummerkastentante – offensichtlich schon aufgrund der gegebenen Sachzwänge einiger Intoleranz bedarf, um sich Freunde zu machen. Und wahrscheinlich lebt es sich mit diesem Wissen auch entspannter und mit deutlich besserem Gewissen, wenn einmal hier und da Grenzen gesetzt werden können: Einfach mal die Mail des Motorsportfreundes nicht beantworten und den Small-Talk mit der hundeverrückten Nachbarin vermeiden! Es sei denn, der Hund ist gerade gestorben…